NGO-Durchsuchungen gehen weiter

Eines der schönsten Worte des russischen Gaunerjargons ist „Schmon“. Es stammt aus dem Jiddischen und bedeutet „8“. Im Gefängnis des vorrevolutionären Odessa, einer damals noch überwiegend jüdisch geprägten Stadt, sollen Zellendurchsuchungen immer um 8 Uhr morgens stattgefunden haben. Und zwar sehr gründliche Untersuchungen, in jeder Ecke und jeder Falte. „Schmon“ bedeutet heute in Russland also auch umgangssprachlich nicht nur einfach „Durchsuchung“, sondern „totale Durchsuchung“. Genau das passt auf die sogenannten staatsanwaltschaftlichen „Prüfungen“ russischer NGOs in den vergangenen Wochen.

Angefangen hat alles mit der „Moskauer Schule für Politische Studien“ am 6. März. Wann die Prüfungen zu Ende sein werden, ist nicht abzusehen. Trotz Putins „Mahnung“ an die Beamten von Staatsanwaltschaft, Justizministerium oder Steuerbehörde am vergangenen Donnerstag, „keine Übertreibungen“ zuzulassen, gingen sie auch am Montag (dem Ostermontag in katholisch oder protestantisch geprägten Weltgegenden) noch weiter. Wenn zum Beispiel die Staatsanwaltschaft in St. Petersburg wirklich, wie in einigen Pressemeldungen verbreitet, alle rund 5.000 NGOs ihrer Stadt prüfen will, dann wird es sogar noch lange dauern. Bei Radio Svoboda gibt es auf der Website eine interaktive Karte mit bisher schon geprüften (oder in besser: in der Prüfung befindlichen) NGOs, die sicher nicht vollständig ist und ständig aktualisiert wird.

Zudem ist eine Prüfung moch lange nicht vorbei, wenn die Beamten, meist mit großen Mengen von Kopien, wieder abziehen. Solange sie vor Ort, also in den Büros der NGOs, sitzen, wollen sie (fast) alles sehen: Stellenpläne ebenso wie Seminarprogramme; Vorstandssitzungsprotokolle wie Gehaltslisten; Lizenzen für Bildungsarbeit und Impfbescheinigungen der MitarbeiterInnen (die Prüfer scheinheilig: „Sie haben doch Publikumsverkehr“); Sprinkleranlagen und Nachweise über Erste-Hilfe-Kurse, Kassenbücher und „Journale über die Bewegung von Arbeitsbüchern“.

Wer kommt, also ob nur die Staatsanwaltschaft (die in allen Fällen die Führung hat) allein auftaucht oder mit dem Justizministerium und der Steuerbehörde, ob das Katastrophenschutzministerium dabei ist (zuständig für den Brandschutz), das Gesundheitsamt oder die Polizei (z.B. das für „Extremismusbekämpfung“ zuständige „Zentrum-E“ oder Computerspezialisten) ist regional unterschiedlich. Ebenso scheint sich das Verhalten der Prüfer zu unterscheiden, regional und je nach Behörde. Tendentiell ist man ist Moskau höfliche als in den Regionen (aus St. Petersburg gibt es in dieser Hinsicht die meisten Klagen) und die Staatsanwälte sind gröber als die Beamten des Justizministeriums. Aber das kann Zufall sein, oder auch ein abgekartetes Spiel.

Allein Memorial in Moskau hat bis (Kar-)Freitag Abend, eine Woche nach Beginn der sogenannten „Überprüfungen“, 8.766 Blatt Dokumente für die Beamten von Staatsanwaltschaft, Justizministerium und Steuerbehörde kopiert, unterschrieben, gestempelt, beglaubigt und zusammen gebunden. Nun ist Memorial zwar eine besonders große NGO, aber Ähnliches passiert in diesen Tagen an vielen Orten. Und heute, am (Oster-)Montag gingen die Prüfungen weiter. Putin hatte ja auch nur gesagt, „Übertreibungen“ seien zu vermeiden, die Prüfungen hingegen seien notwendig.

All die Zigtausende mitgenommenen oder angeforderten Dokumentenkopien werden nun in den jeweiligen Behörden akribisch durchgearbeitet. Die ersten Verstöße sind schon moniert. Angesicht der Massen von Prüfern (bei den meisten Organisationen waren es mindesten drei, vier Beamte aus unterschiedlichen Behörden, oft mehr) sind viele weitere Beanstandungen zu erwarten. Ein paar erste, kleine Bespiele: Einer NGO in Sibirien wird vorgeworfen, ihr aus den Anfangsbuchstabens des Organisationsnamens bestehendes Logo nicht wie vorgeschrieben einem heraldischen Dienst zur Prüfung und Genehmigung vorgelegt zu haben. Es könnte ja sein, dass die Hoheitsrechte des Staates verletzt werden. Mehreren Organisationen wird die Nichtbeachtung der Brandschutzvorschriften zur Last gelegt.

Bei einer Moskauer NGO wurde geich am ersten Tag ein ganz besonders gefährliches Steuervergehen entdeckt. Eine Mitarbeiterin hatte einen ausländischen Gast zum Flughafen begleitet und sich, nachdem der Gast laut Flugplan schon im Flieger sitzen sollte, dort im Cafe einen Cappucino genehmigt und später abrechnet. Da der Dienstauftrag beim Kaffetrinken schon beendet gewesen sei, so streng der prüfende Steuerfahnder, sei der Cappucino die Privatangelegenheit der Mitarbeiterin und folglich ein geldwerter Vorteil. Der müsse versteuert werden und auch Sozialabgaben seien fällig.

Viele der Vorwürfe (den Brandschutz einmal ausdrücklich ausgenommen) klingen eher lustig, können aber ernsthafte Folgen haben. Die beginnen bei den im vergangenen Jahr auf ein Mehrfaches der bisherigen Summen erhöhten Strafen für vergleichsweise kleine Verfehlungen. Das Fehlen eines Feuerlöschers oder das Ablaufen seines Verfallsdatums kann leicht bis zu 500.000 Rubel kosten, umgerechnet rund 12.500 Euro. Für viele kleinere NGOs können solche Strafen das Aus bedeuten. Zudem haben die Behörden erst angefangen zu suchen und zu finden. In den kommenden Monaten werden die geprüften NGOs unter dem Druck leben (müssen), jederzeit hohen Strafforderungen ausgesetzt zu werden. Fast jede Verfehlung kann im Übrigen vom Justizministerium mit einer „Verwarnung“ versehen werden. Wie beim Sport kann eine zweite Verwarnung zum Ausschluss führen: Das Justizministerium hat dann die Möglichkeit, die Schließung der entsprechenden NGO vor Gericht zu beantragen.

Selbst wenn die Prüfungen morgen beendet würden, hat der Kreml also das wichtigste Ziel bereits erreicht: Alle sind ausreichend eingeschüchtert. Die Staatsanwaltschaft und die anderen Behörden können das eigesammelte Material nun in Ruhe auswerten und sich die NGOs dann eine nach der anderen vornehmen. Das macht weniger Lärm und dafür lässt sich weniger Solidarität organisieren als wenn alle auf einmal betroffen sind. Eine andere Möglichkeit ist es, die NGOs mit weiteren Anfragen, Verwarnungen, Anweisungen so beschäftigen, dass sie zu ihrer eigentlichen Arbeit nicht mehr so recht kommen. Außerdem senden die Massenüberprüfungen en deutliches Signal an alle, vor allem natürlich an staatliche Stellen: Seid vorsichtig, Euch  mit diesen Leuten einzlassen. Es sieht also viel finsterer aus als noch vor einem Monat.

Was mögen die Gründe für das zu diesem Zeitpunkt unerwartet harte staatliche Vorgehen gegenüber den NGOs sein? Ich sehe drei: Paranoia, Rache und Ablenken. Schon seit vielen Jahren sieht der Kreml (und Putins persönliche Weltsicht dürfte sich damit decken) in NGOs und ihrer  Finanzierung aus dem Ausland eine große Bedrohung für den Machterhalt. Diese Manie trägt, angesichts der politischen Situation im Land, der Anzahl der NGOs und der Mengen der Finanzierung, leicht (vielleicht auch: stark) paranoide Züge. Argumente helfen hier kaum. Damit wird man leben müssen.

Die Proteste im vergangenen Winter (hinter denen Putin schon damals als wichtige treibende Kraft oppositionelle NGOs vermutete) sind den Herrschenden im Kreml, wenn man vielerlei Erzählungen aus unterschiedlichen Quellen und seinen eigenen Augen glauben darf, ziemlich in die Glieder gefahren. Für diese Angst, vor allem aber, dass sie öffentlich sichtbar wurde, rächt man sich jetzt.

Für den dritten Grund, das Ablenken, muss ich ein wenig ausholen. Nachdem die Protestwelle abgeflaut ist, der angeblich bevorstehende Umsturz abgesagt, hat die Opposition nichtsdestotrotz ein neues, dem Kreml durchaus schmerzhaftes Betätigungsfeld gefunden, das mit dem schönen Neologismus „Pechting“ bezeichnet wird. Die Proteste standen im vorigen Frühjahr ganz unter dem potentiell mehrheitsfähigen Motto „gegen die Diebe und Gauner“ der Kremlpartei Einiges Russland. Als Antwort begann der Kreml im vergangenen Herbst eine eigene Antikorruptionskampagne. Ein Teil dieser Kampagne ist das Verbot von hohen Politikern, Beamten und Abgeordneten, Vermögen (ob nun Geld oder Immobilien) im Ausland zu besitzen.

Wladimir Pechtin war nun ein führender Duma-Abgeordneter von Einiges Russland und Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Ethik. Wie alle anderen hatte auch er pflichtgemäß sein Einkommen und Vermögen deklariert. Zu dumm, dass Blogger Alexej Nawalnyj herausfand (oder ihm zugetragen wurde), dass Pechtin noch eine Wohnung in Miami, Bundessstaat Florida, USA besitzt. Pechtin musste zurücktreten, nach ihm noch weitere Abgeordnete und weitere Enthüllungen sind zu erwarten. Das schürt ausgerechnet unter treuen Putin-Gefolgsleuten viel Unruhe, gehört es doch bisher zum „Deal“, sich für Treue auch gut entlohnen zu lassen (oder beim Sich-Selbst-Entlohnen nicht erwischt zu werden). Das Vorgehen gegen die NGOs lenkt nun in doppelter Hinsicht davon ab: Zum einen nimmt es öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch, zum anderen soll dem Volk so gezeigt werden, wo die wahrem Feinde Russlands sitzen.

Und noch ein Letztes: Es ist nur auf den ersten Blick widersprüchlich, dass Putin Ende voriger Woche erst Staatsanwälte und Steuerfahnder ermahnt, es „nicht zu übertreiben“ und am nächsten Tag 2 Milliarden Rubel (ca. 50 Millionen Euro) zur Unterstützung von NGOs freigibt. Erstens geht das Geld aller Erfahrung mit solchen Wohltaten nach zum allergrößten Teil an loyale NGOs oder GONGOs (also von der Regierung gegründeten oder kontrollierten Fake-NGs). Und zum zweiten ist es durchaus Teil des üblichen „Teile und Herrsche“, ein wenig Geld auch den Unbequemen zu geben, und sei es nur, um nachher sagen zu können, seht her, wie liberal wir sind.