Kudrin und die Proteste: Ausweitung der Politikzone

Die wohl wichtigste Frage für Erfolg oder Misserfolg der Proteste in Russland (bei denen es schon längst nicht mehr nur um die Wahlfälschungen vom 4. Dezember geht, sondern darum ob die zurück gekehrte öffentliche Politik bleibt und das Land öffnet oder ob es Putin gelingt, den Geist in die Flasche zurück zu treiben) ist wohl, ob es die Protestierenden schaffen, sich als politische Kraft und damit als Verhandlungspartner zu konsolidieren. Selbstverständlich werden Putin und die seinen alles tun, um das zu verhindern. Sie werden verschleppen, abwerben, denunzieren, sicher auch provozieren, spalten und was es sonst noch an schmutzigen Waffen gibt in Politarsenal.

Besser: Sie haben damit schon begonnen. Voran Putin selbst, als er noch im alten Jahr erklärte, er sehe niemandem dort, der als Führungsperson so anerkannt sei, dass es sich mit ihm zu sprechen lohne. Außerdem seien die diffusen und amorphen Demonstrationen ohne konkrete Forderungen geblieben. Worüber also reden?

Hier soll heute nicht versucht werden, dieses komplizierte Geflecht insgesamt aufzudröseln. Vielmehr will ich mich mit dem ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin beschäftigen. Er könnte eine Schlüsselrolle spielen. Das liegt vor allem daran, dass er offenbar für beide Seiten gesprächsfähig ist. Putin nannte Kudrin noch wenige Tage vor der Demonstration am 24. Dezember „einen der besten Ökonomen Russlands“ und „meine persönlichen Freund“. In vielen Kommentaren wurde deshalb Kudrins Auftritt auf der Demonstration und seine Neuwahlforderung als Affront gegen Putin verstanden. Mag sein.

Es ist aber auch eine andere Lesart möglich. Die lautet so: Erst hat Putin mit dem „Freund“ Kudrin öffentlich zu seinem Vertrauten gemacht und ihm damit zu Verhandlungen mit der anderen Seite bevollmächtigt, ohne dass es formal Verhandlungen gibt. Mit der Neuwahlforderung hat Kudrin dann, ebenfalls öffentlich, zu verstehen gegeben, dass er nicht einfach nur „Putins Mann“ ist, sondern durchaus für die Rolle eine ehrlichen Vermittlers taugt (taugen will). Jedenfalls hat er auch in den Augen vieler Protestierer erheblich an Statur und Glaubwürdigkeit gewonnen. Tatsächlich gibt es inzwischen Gespräche zwischen einigen OrganisatorInnen der Proteste (die aber bisher nicht als konsolidiertes Subjekt, sondern mehr oder weniger als Einzelpersonen und Einzelorganisationen auftreten – doch von diesem Problem in einem der nächsten Blogeinträge) und Kudrin. Ob Kudrin auch mit Putin spricht oder dessen Leuten, weiß ich nicht, halte es aber für wahrscheinlich.

Das ist schon einmal ein wichtiger Schritt, auch wenn alles natürlich auch „nur“ Zeitspiel sein kann, um die eigenen Kräfte erneut zu sammeln (Putin) oder weiter zu stärken (die Opposition). Darüber, wie die Rolle Kudrins aus Sicht der Opposition aussehen könnte, gibt ein „offener Brief“ des Publizisten und Mitarbeiter des Jegor-Gajdar-Institut Kirill Rogow, eines der strategischen Köpfe der Opposition, einen guten Eindruck. Den in der russischen Internetausgabe des Forbes erschienener Text „Kirill Rogow: Offener Brief an Alexej Kudrin“ stelle ich deshalb hier in Deutsche übersetzt vor:

 

Sehr geehrter Alexej Leonidowitsch,

enorme Achtung hat bei mir und, wie ich weiß, bei vielen anderen, Ihr Kommen zur Demonstration am 24. Dezember hervorgerufen. Sie sind nicht nur gekommen, sondern haben drei Stunden in der Schlange auf Ihren Auftritt gewartet. Als Sie sprachen ertönten Pfiffe. Dort allerdings, wo ich stand, haben die Menschen im Gegenteil „Braa-voo! Braa-voo!“ skandiert.

Meiner Ansicht nach haben sie mit ihrem Aufruf zum Dialog zutiefst Recht und ebenso macht Ihr Gedanke Sinn, dass es am besten wäre, wenn die gegenwärtigen Abgeordneten neue Gesetze zu einer politischen Reform verabschiedeten und dann Neuwahlen ansetzten. Aber die Möglichkeit zu solch einer Entwicklung liegt vollständig in den Händen derjenigen, die im Parlament tagen, und derjenigen, die heute die Exekutive stellen.

Ihre ehemaligen Kollegen in der Regierung sagen, dass die Demonstrationen auf der Bolotnaja Ploschtschad und auf dem Sacharow-Prospekt keine Führungspersonen gehabt hätten und keine klaren Forderungen. Das ist arglistig. Die Demonstrationen haben ein ganz klares Programm und ganz klare Forderungen. Wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten, durch die Menge zu gehen, die Losungen zu lesen, den Geist dort zu spüren, dann hätten Sie dieses Programm glasklar erkannt.

Das waren Demonstrationen gegen den Betrug. Gegen den Betrug als Grundprinzip des politischen und sozialen Lebens. „Es reicht, uns zu betrügen, es reicht, uns wie jene Fabrikate aufzublasen, die überall ihren ehemaligen Kollegen in der Regierung gesehen werden.“ (Hier spielt Rogow mit den Worten. „Aufblasen“ heißt in der Umgangsprache „übers Ohr hauen“ und „aufgeblasen“ werden Kondome, an die sich Putin angeblich erinnert fühlte als er die weißen Schleifen der Protestbewegung erstmals sah, JS) Ungefähr darauf kann der Sinn eines Großteils der geistreichen und erfindungsreichen Plakate zusammen gefasst werden, deren Texte inhaltreicher und genauer waren als viele Reden von der Tribüne. Und das ist nicht nur eine momentane Stimmung, keine der Situation geschuldete Kränkung, wie einigen scheint. Das ist ein politisches Programm: NEIN-ZUM-BETRUG! Nein zum Betrug.

Was folgt daraus? Daraus folgt die Unmöglichkeit eines Tauschangebots nach der Formel: Lasst uns den Schwindel vom 4. Dezember vergessen und, die Ärmel aufkrempelnd, machen wir uns an den Aufbau eines neuen und ehrlichen zukünftigen Lebens.

Die Erneuerung des politischen Systems liegt nicht darin, dass man zur Registrierung von Parteien und Kandidaten nun 5, 10 oder 20 mal weniger Unterschriften braucht, sondern darin, den Betrug zu unterbinden und allen zu zeigen, dass Betrug bestraft wird. Sie besteht in der Behauptung, dass es eine Wahrheit gibt und dass man sie von der Lüge unterscheiden kann, obwohl man zehn Jahre lang versucht hat, uns vom Gegenteil zu überzeugen. Sie besteht in der Behauptung des Prinzips der Verantwortung von Politikern für eine Lüge. Zumindest derer, seien wir Realisten, die auf frischer Tat bei einer Lüge ertappt wurden. Und wenn der Betrug dieses Mal nicht unterbunden und bestraft wird, dann wird es auch keinerlei Erneuerung geben. Dann wird man uns weiter genauso unverschämt betrügen wie bisher, wenn auch mit anderen Formulierungen im Gesetz.

Wir wissen sogar den genauen Tag, an dem das das nächste Mal passieren wird.

Ich will diesen Gedanken erklären. In den Erklärungen Ihrer ehemaligen Kollegen in der Regierung hören wir in den vergangenen Tagen drei Thesen:

  1. diejenigen, die mit dem Ergebnis der Wahlen nicht zufrieden sind, sollen sich an die Gerichte wenden (wir leben doch in einem Rechtsstaat!);
  2. die Wahlen am 4. März werden fair durchgeführt (das versichern uns aus irgendwelchen Gründen mit Verve Menschen, die behaupten, dass auch die Wahlen vom 4. Dezember im Großen und Ganzen fair waren);
  3. um die Ehrlichkeit der Wahlen am 4. März zu demonstrieren, werden überall Web-Kameras und gläserne Wahlurnen aufgestellt.

Verehrter Alexej Leonidowitsch, sie sind inzwischen auf Twitter und haben eine Website im Internet und sie wissen wahrscheinlich inzwischen das, was ihre ehemaligen Kollegen in der Regierung nicht wissen sollen. Und zwar wissen sie inzwischen, dass die Menschen genau wissen, wie man sie betrügt. Sie wissen inzwischen wohl zum Beispiel, dass man, um sich an ein Gericht wenden zu können, eine Kopie des Auszählungsprotokolls der Wahlkommission vorlegen muss. Wenn der Vorsitzende der Wahlkommission Sie aber unter einem ausgedachten Vorwand aus dem Wahllokal gewiesen hat oder Ihnen die Protokollkopie einfach nicht gegeben hat, dann hat er dafür nichts zu fürchten. Aber im Gericht sagt man Ihnen, dass Sie ohne das Papier nichts wert sind. So ist das Gesetz geschrieben, von denen, die die Wahlkommissionen bilden, deren Vorsitzenden das Gesetz verletzten und dafür keinerlei Verantwortung tragen.

Aber selbst wenn sie eine Protokollkopie haben, zeigt der Wahlkommissionsvorsitzende dem Gericht ein anderes Protokoll – und Ihre Beschwerde wird abgewiesen. Beschreibungen von Dutzenden solcher Prozesse, die in diesen Tagen laufen, können Sie leicht im Internet finden.

Alexej Leonidowitsch, erklären Sie bitte, was hier Web-Kameras und gläserne Urnen sollen?

Eine gläserne Wahlurne ist kein Beweis vor Gericht. In die gläserne Wahlurne kann man reingreifen und man kann sich von der Webkamera aufnehmen lassen, indem man Tschurow (Leiter der Zentralen Wahlkommission, JS) zuwinkt. Zu mehr ist sie nicht nutze. Umso mehr als die Information aus den Webkameras wo zusammen kommen werden? In der Zentralen Wahlkommission, so witzig das auch sein mag. Die Leute, die unsere Stimmen geklaut haben, wollen nun auch noch unsere Abbildungen klauen.

Im Internet können Sie einen vollständigen Katalog der Betrugsmethoden finden, mit deren Hilfe die Wahlen gefälscht wurden. Die meisten dieser Methoden lassen sich mit gläsernen Wahlurnen und Webkameras nicht fixieren und durchkreuzen. Dafür lassen sie sich hervorragend durch Wahlbeobachter feststellen. Aber Sie werden lachen: Ausgerechnet die Zeugenaussagen von Wahlbeobachtern gelten nicht als Beweise für unfaire Wahlen, wie uns erklärt wird.

Man bietet uns also an, die Wahrheit über die unfairen Wahlen am 4. Dezember als Lüge anzuerkennen und im Gegenzug die Lüge über faire Wahlen am 4. März als Wahrheit. Und wie sehr ähnelt doch diese wunderbare Welt totaler Fairness der alten guten Welt totaler Lüge.

Zum Anfang zurück kehrend sage ich noch einmal, dass ich Ihre Sorge um das rechtliche und institutionelle Vakuum, in dem wir uns gerade wiederfinden vorbehaltlos teile. Aber daran sind nicht die Demonstrationen schuld. Sein Grund liegt nicht darin, dass es bei den Demonstrationen keine Führungspersonen und klaren Forderungen gegeben hätte, wie man uns erklärt.

Mir scheint die Situation sogar noch dramatischer zu sein, als sie in Ihren Beschreibungen aussieht. Ich wiederhole eine Phrase, die in den vergangenen Tagen sehr populär geworden ist: Man bekommt die Paste nicht mehr zurück in die Tube. Niemand hat die Macht jener Duma Legitimität zu verschaffen, die heute am Ochotnyj Rjad tagt. Gleichzeitig zeigen nach Umfragen 40 Prozent der Bevölkerung Verständnis für die Forderungen der Demonstranten.

Ich bin der Meinung, dass Ihre Bereitschaft, Verhandlungen zwischen den Seiten zu vermitteln sehr wichtig und produktiv ist. Aber es ist, wie ich finde, auch sehr wichtig, den Kern des Problems so genau wie möglich zu formulieren. Auf die Frage, was im politischen Leben in Russland nach dem 4. Dezember geschehen ist, würde ich so antworten: Der Bevölkerung ist bewusst geworden, dass diejenigen, die in diesem Land die Macht haben, am 4. Dezember das Gesetz übertreten haben. Dieses Bewusstsein ist dieses Mal ein konsolidiertes Massenbewusstsein. Es ist praktisch zu einer politischen Bewegung geworden.

Das ist genau die Paste, die man nicht mehr in die Tube zurück bekommt. Damit ist das Gewinde des in den vergangenen Jahren in Russland bestehenden politischen Systems überdreht. Die Machthaber haben faktisch in den Augen der Bevölkerung ihre Legitimität verloren. Das sind keine Hirngespinste von Demonstranten und Heißköpfen, das sind praktische soziologische Tatsachen. Ich bin überzeugt, dass Sie ausgezeichnet verstehen, was das für jedes beliebige politische System bedeutet. Für jedes beliebige Land. Aber eben aus diesem Verständnis heraus müssen wir eine Möglichkeit finden, wieder in den Rahmen des Rechts zurück zu kehren.


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