Am vergangenen
Samstag hat der Wahlkampf in Russland auch auf der Straße begonnen. In Moskau
fanden fast zeitgleich zwei Demonstrationen statt. Auf dem Sacharow Propekt, in
der nördlichen Innenstadt, versammelten sich rund 50.000-Kremljugendliche, die
„Unsrigen“, um, behängt mit weißen Schürzen, die Avantgarde im Kampf gegen die
Korruption zu übernehmen. Rund drei Kilometer südlich, auf dem Sumpfplatz
jenseits der Moskwa, demonstrierten etwa 6.000 Oppositionelle, aufgerufen von
der in Gründung befindlichen Partei der Freiheit des Volkes (abgekürzt:
„Parnas“) unter der Losung „Wähle die Freiheit“ gegen Korruption und für freie
und gerechte Wahlen.
Fangen wir mit
den „Unsrigen“ an. Die Massenaufmärsche haben Tradition und sind finanziell gut
unterfüttert. Zwischen den Wahlen war die Kremljugend (ihr Gründer Wassilij
Jakemenko ist nach den vergangenen Wahlen Chef eines neugegründeten staatlichen
Komitees für Jugendpolitik geworden) ein wenig klamm geworden und in Not
geraten. Doch die anstehenden Wahlen mit ihren notwendigen Mobilisierungen und
Zuspitzungen machen die alte Speerspitze wieder attraktiv.
Die Demonstration
am Samstag war im Internet schon in den Wochen vorher ein Skandal. Die „Unsrigen“
warben für die Demostration mit einem sexistischen Kalender, den viele junge,
nur mit Stöckelschuhen und einer weißen Schürze bekleidete Frauen zierten. „Sex
gegen Korruption“ war das Motto, das aber die InitiatorInnen weder erklären
wollten noch konnten. Auch der Sinn der weißen Schürzen blieb im Dunkeln. Am
nächsten mag noch die Vermutung kommen, dass weiß die Farbe der Unschuld ist
und manche Leute Schürzen zum Putzen anziehen.
Etwas klarer
wurde der Sinn der Aktion, als Wladislaw Surkow, Hauptideologe im Kreml und
Pate der „Unsrigen“, vorige Woche den Weg vor deren Führungskadern auftrat. Es
lohnt sich, ein Surkow etwas ausführlicher zu zitieren, denn das Narrativ für
diese Wahlen ist noch nicht gefunden. Warum sollten die Menschen für Putin oder
Medwedjew stimmen? 2000 war es das Versprechen Putins, nach Jelzin komme
endlich Ordnung wieder und der Staat werde wieder handlungsfähig gemacht. 2004
die Versicherung, er werde steigenden Wohlstand ausbauen. Beide Narrative
wurden durchaus in der Bevölkerung aufgenommen. 2008 begründete der Kreml (alt
und neu), Medwedjew werde Putins Kurs fortführen und so für Stabilität sorgen. Auch
das kam an. Doch nun, nach der Finanzkrise, die nahtlos in eine schleichende politische
Krise übergegangen ist?
Deshalb also Surkow,
man könnte sagen, mit seinem ersten öffentlichen Versuch vor den kommenden
Wahlen: „Die Opposition behauptet das es Korruption nur bei der Obrigkeit gibt.
Allerdings sind Präsident und Premier die ersten gewesen, die darüber geredet
haben, dass es das Problem gibt und dass man dagegen mit konkreten Taten
ankämpfen muss. Und die Oppositionäre selbst leben im Übrigen von grauen
ausländischen Geldern, ohne das zu verbergen. Was ist das, wenn nicht eine
Demonstration der Korruption, eine Demonstration, dass alles erlaubt ist? Sie
müssen doch nach den gleichen Gesetzen leben, wie alle anderen. Und so kommt
es, dass man sie für eine Gesetzesverletzung nicht festnehmen kann, aber
ausländische Finanzierung zu bekommen ist erlaubt – warum? In den 1990er Jahren
ist die Korruption zur Vollendung gebracht worden. In der Wirtschaft war es
Mode, Beamte zu kaufen und zu sammeln und dann untereinander staatliche
Dienstleistungen auszutauschen. Und jetzt beschuldigen uns diejenigen, die
dieses System, die Korruption institutionalisiert haben und bringen ihre
Antikorruptionsuntersuchungen heraus.“
Das ist kühn. Und
ob es geglaubt wird? Eher unwahrscheinlich. Surkow geht mit den 1990ern wohl
doch zu weit zurück. Zwar hat sich im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt, dass
es damals ziemlich schrecklich war, chaotisch und arm. Doch inzwischen langt
das nicht mehr für eine Mobilisierung. Höchsten noch bei jungen Leuten, die
sich an die 1990er nur sehr ungenau erinnern, weil Sandkasten und Puppenstube
damals doch noch wichtiger waren.
Wie unwissend (fast
bin ich versucht zu schreiben „unschuldig“) viele der TeilnehmerInnen waren, ist auf
Youtube zu bewundern. Auf die Frage, wer denn dieser Sacharow sei, nach dem der
Prospekt benannt ist, auf dem sie demonstrieren, was der denn Bemerkenswertes
getan habe, dass nach ihm eine Straße im Moskauer Stadtzentrum benannt wurde,
wusste keiner der Weißgeschürzten eine Antwort. Die originellste Reaktion war noch
die einer jungen Frau, der habe den Zucker (russisch: Sachar) erfunden.
Heute aber etwas
erfahreren Menschen gegenüber zu behaupten, die Korruptionäre säßen in der Opposition
(die schon seit mehr als zehn Jahren von allen Fleischtöpfen fern gehalten
wird) und den ach so bösen Unternehmern, dürfte kaum noch jemanden überzeugen.
Zu eng ist inzwischen die Verflechtung zwischen Verwaltung, politischer und
wirtschaftlicher Macht. Immer wieder hat insbesondere Putin öffentlich
demonstriert, wer im Verhältnis Staat-Wirtschaft nun Koch und wer Kellner ist.
Die in den 1990er noch wirtschaftsgetriebene Korruption ist längst einer Staatsgetriebenen
gewichen. Dass Surkow trotzdem zu diesem Taschenspielertrick Zuflucht sucht,
zeigt wohl eher die Verzweiflung auf der Siche nach einem zugkräftigen
Narrativ.
Ach ja, die
Oppositionsdemonstration auf dem Sumpfplatz, dem Platz in der Innenstadt, an
dem kleinere Demonstrationen am kümmerlichsten aussehen (weshalb sie oft nur
dort genehmigt werden). Rund 6.000 DemonstratInnen sind für die Opposition eine
Menge. Es war die größte nicht-kommunistische Kundgebung der vergangenen Jahre.
Darauf können die Parnas-Leute durchaus stolz sein. Helfen wird es wenig. Die
Partei wird kaum die Registrierung bekommen. Die Wahlen werden wieder ohne
echte Opposition abgehalten. Auch bei fehlendem Narrativ reichen die „administrativen
Ressourcen“ des Kremls allemal. Das schwere Wegstück beginnt wohl erst danach.