Der öffentliche
Wahlkampf in Russland zu den Parlamentswahlen im Dezember dieses Jahres und den
Präsidentenwahlen im März des nächsten hat ganz offensichtlich begonnen. Die
Frage ist aber, was ist das für ein Wahlkampf? Nach welchen Regeln wird
gekämpft? Denn nur mit einem Verständnis der Regeln lassen sich einigermaßen
begründete Aussagen darüber treffen, was das nun bedeutet, auch für den Ausgang
der Wahlen und damit das folgende Schicksal des Landes.
In der
öffentlichen Diskussion über diese Frage stehen sich momentan zwei
Interpretationslinien gegenüber. Die eine behauptet, es gebe zunehmende
Meinungsverschiedenheiten zwischen Präsident Medwedjew und Premier Putin, die
zu einem wirklichen Machtkampf zwischen den beiden führen. Sie vertreten also
die Ansicht, dass es diesmal, im völligen Gegensatz zu den vorigen Wahlen Ende
2007/Anfang 2008, tatsächlich um eine Wahl geht.
Die zweite
Interpretationslinie geht davon aus, dass von einem wirklichen Machtkampf
zwischen Medwedjew (und einem „Medwedjewlager“) und Putin (und einem
„Putinlager“) keine Rede sein könne, schon deshalb weil Putin immer noch der
ungleich Stärkere sei und ein Aufbegehren Medwedjews gegen seinen Ziehvater
nichts anderes als sein politische Ende bedeuten würde. Ich gehöre bisher eher
dieser Denkrichtung an, wobei ich einräume, dass seine Schwäche und die Gefahr
des vorzeitigen Endes Medwedjew beunruhigen sollte, aber nicht unbedingt sein
„Lager“ beunruhigen muss. Viele die heute „Hurra Medwedjew“ schreien, meinen keineswegs
die Person, sondern suchen lediglich einen Kristallisationspunkt gegen Putin.
Angesichts des leeren politischen Feldes bleibt da kaum eine andere Wahl.
Ich schreibe
nicht zufällig, dass ich „bisher“ dieser Sichtweise zuneige, denn seit kurzer
Zeit beginne ich mich von ihr zu entfernen. Das heißt nun nicht, dass ich
gleich an einen Machtkampf auf höchster Ebene glaube. Vielmehr möchte ich mich
der Terminologie des Putinismus selbst bedienen, wenn auch in etwas
abgewandelter, man könnte auch sagen, fortentwickelter Form. Das, was wir
gegenwärtig beobachten, sieht ganz nach einem „gelenkten Wahlkampf“ aus, mit
„gelenkter Konkurrenz“. Was meine ich damit?
Die
Modernisierungsdebatte ist nicht nur einfach eine Debatte, auch nicht an der
Staatsspitze. Der Schock der Verletzlichkeit der russischen Wirtschaft in der
Finanzkrise und damit auch des politischen Herrschaftssystems war und ist groß.
Eine Erkenntnis ist, dass fehlende Konkurrenz zu vielen Problemen führt: zu
Trägheit, zu noch mehr Korruption, zur Abwanderung mobilerer und besser
ausgebildeter Spezialisten, zu Enttäuschung und innerer wie äußerer Emigration,
zu schlechteren Lösungen als möglich, usw.
Diese Erkenntnis
ist nicht neu. Die Modernisierungsprogramme wurden von Anfang an deswegen von
vielen Seiten (beileibe nicht nur aus dem Ausland oder der Opposition) kritisiert
und, neben riesigen, staatlich gelenkten Investitionsprogrammen auch eine Öffnung
des politischen Systems gefordert. Der „gelenkte Wahlkampf“ ist diese,
systemimmanente Öffnung. Anders ausgedrückt: Konkurrenz, aber unter Kontrolle. Denn
das größte Grauen der gelenkten Demokraten in Kreml und Weißem Haus ist
Kontrollverlust.
Eine politische Öffnung
im Sinne politischer Konkurrenz hätte, aus Sicht der Macht Habenden ein
unkalkulierbares Risiko bedeutet. Eine nicht nur gespielte, aber wohl
moderierte und mit klaren Grenzen abgesteckte Konkurrenz zwischen den Modellen „Medwedjew“
und „Putin“ ist dagegen ein besser kalkulierbares Risiko. Sie soll das Geschäft
beleben, ohne es zu verderben. Genau so sind Medwedjews Äußerungen von dieser
Woche zu verstehen, er und Putin seien sich in den Zielen einig, hätten aber
unterschiedliche Auffassungen über den Weg dahin. Und Putin hat nicht
widersprochen.
In gewisser Weise ähnelt der „gelenkte Wahlkampf“ sogar echten Wahlkämpfen in Ländern mit freien Wahlen. Hier wie dort gibt es Konkurrenz und Regeln, innerhalb derer diese Konkurrenz abläuft. Nur die Regelwerke sind eben andere. Dort Gesetze und eine kontrollierende Öffentlichkeit, hier das Gentlemen-Agreement der beiden obersten Russen. Nicht auszuschließen, dass viele das als einen Schritt zu mehr Demokratie interpretieren werden.
Ob diese Rechnung
nun aufgeht, ob sich selbst ein machteliteninterner Wahlkampf „lenken“ lässt,
werden wir sehen. Offenbar hat die Risikoanalyse ganz oben zum Ergebnis
geführt, dass ein weiter so noch
gefährlicher ist. Ein schwer wägbarer Faktor ist die außersystemische
Opposition. Sie wird versuchen, den gelenkten Graben zu verbreitern, so dass
die Stege über ihn einbrechen. Die bisherige Praxis hat gezeigt, dass die
Lenker im Kreml (und im Weißen Haus) es noch immer geschafft haben. Bisher war
die Lage aber auch noch nicht so ernst.