Olympische Winterspiele in Vancouver als Russlands Cannae: Vae victaes!

Zugeben, die Vermischung des grandiosen und bis zum Schlieffenplan militärstrategisch nachwirkenden Hannibal-Sieges über die Römer 216 v. Chr. bei Cannae und des „vae victaes“, des „Wehe den Besiegten“ des Gallierfürsten Brennus, nach dem er auch noch sein Schwert in die Waagschale warf, ist historisch gewagt. Doch metaphorisch stimmt alles. Russlands Winterolympen haben in Vancouver so wenig Medaillien eingefahren, eingeschossen und eingesprungen, wie nie zuvor.

Das bisherige Allzeittief waren fünf Goldmedaillien 2002 in Salt Lake City. Das wurde damals kremlseits als Spätfolge der Jelzin-Chaos-Jahre verbucht (wie so vieles, wenn nicht alles andere Missliche auch). In Turin, vier Jahre darauf, waren es dann schon wieder acht Siege. Das Land war unter Präsident Putin und dem Ölpreis wieder auf dem Weg nach oben. 2008 dann überzeugte Putin das Olympische Komitee (man sagt, seine Mittel seien angenehm überzeugend gewesen), die Winterspiele 2014 nach Sotschi zu vergeben. Die Spiele in Vancouver sollten der Zwischenschritt auf dem Weg zurück zur (Wintersport-)Supermacht sein. Noch vor einem Jahr gab das NOK Russlands selbstbewusst das Planziel „11 Goldene“ für Vancouver aus. Und nun diese Schmach.

Schon zur Halbzeit hatte Putin, von Sibirien aus, das schreckliche Wort „orgvyvody“ ausgestoßen. Der Blick war stechend. „Orgvyvody“ bedeutet direkt übersetzt, man wolle „organisatorische Schlüsse“ ziehen. Da das Wort aber aus dem Arsenal sowjetischer Apparatekämpfe stammt, ist eine freiere Übersetzung angebrachter: Da werden Köpfe rollen. Gleich nach dem Aus für das alympische Feuer legte der wg. fehlender Feierlaune zu hause gebliebene Jungpräsident Medwedjew nach: Entweder die Sportfunktionäre hätten genug Mumm und Anstand, selbst zurück zu treten, oder er würde nachhelfen. So etwas geht im gelenkten Russland fix.

Die Chefs sind aber nicht Schuld, sie dürfen es nicht sein. Sotschi 2014 ist als kronenlose Krönung Putins gedacht, ein Ruhmes-Denkmal, ein Zeichen des wiederauferstandenen Reiches. Sotschi (und der Sport insgesamt) ist aber auch Teil des Herrsche und Teile, von Brot und Spiele. Da es mit dem Brot angesichts der Wirtschaftskrise knapper geworden ist, wären unterhaltsame und Volkesseele mit Siegen labende Spiele umso wünschenswerter gewesen. Auch daher die Enttäuschung und der harsche Ton. Die sportliche Niederlage kratzt an Putins ohnehin bereits ein wenig angestoßenen Siegerimage.

Schon das Ausscheiden der russischen Fussballnationalmannschaft gegen Slowenien in der WM-Relegation kann von heute aus als böses Vorzeichen gesehen werden. Das hatte selbst Guuuuuuus (russischen Fußballfans) Hinddink, holländischer Wunderheiler leidender Fußballnationen nicht verhindern können (und nun wird er vom Sommer an die türkische Nationalelf zu neuen Höhen führen. Ein Omen?).

Es gibt ein deutsches Buch, das die Erfolge und Misserfolge, die (selten) spielerische Leichtigkeit und die (oft) stampfende Fußballarbeit deutscher Mannschaften mit den Läuften der Politik verbindet. Was hieße das, auf Russland und die Vancouver-Olympiade bezogen? Wenn also die Kremlideologen Recht hätten, Salt Lake City also 2002 tatsächlich der Nachhall des tiefen Falls der Jelzin-Jahre war und Turin 2006 seine Wiedergeburt aus Putin und Öl? Dann könnte Vancouver die Krise des Spätputinismus markieren. Der falsche Zauber der Hochpreiszeit, die Illusion der Lenk- und Planbarkeit komplizierter und vielfältiger gesellschaftlicher organisamen von einem avandgardistischen Zentrum aus hätte dann ihren Zenit überschritten.

Parallelen lassen sich finden. Viel Geld hat der Kreml in darbende, aber schlecht gemanagte Industriezweige gepumpt. Ein großer Teil versickerte, ein anderer großer Teil verschwand auf Offshore-Konten in der Schweiz/auf den Bahamas/auf Zypern/ den Jungferninseln. Ein Teil immerhin führte zu einer kleinen Blüte, die sich oft schnell als Scheinblüte entpuppte. Und fast überall sitzen Günstlinge, alte Freunde, Datschennachbarn, Kommilitonen, frühere Lehrer. So auch im Sport. Aber, wie oben schon gesagt: Die Chefs sind nie schuld, dürfen nie Schuld haben. Sie sind auch nie die Besiegten. Das sind immer die anderen, denen dann noch das Schwert auf die Waagschale geworfen wird. Vae victaes!


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