Im Herbst unerwartet angekündigt und heute getan: Die russische Staatsduma hat das 14. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention ratifiziert – sechs Jahre nach seiner Annahme im Europarat und vier Jahre nach Unterzeichnung durch den damaligen Präsidenten Putin. Da Russland schon lange das letzte Land war, dessen Ratifizierung noch ausstand, tritt das Protokoll nun in Kraft. Sein Sinn liegt vor allem darin, die Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu vereinfachen, indem nicht mehr alle Richter an allen Verfahren teilnehmen müssen und damit erheblich zu beschleunigen. Genau dagegen hatte der Kreml immer wieder Bedenken erhoben. Denn eine Beschleunigung bedeutet, dass viel mehr Klagen russischer Bürger gegen ihren Staat Chancen haben, in nicht allzu ferner Zukunft in Straßburg behandelt zu werden.
Doch was hat das russische Einlenken bewirkt? Welche Kompromisse ist der Kreml eingegangen und welche die anderen europäischen Staaten? Und wer hat besser verhandelt? Darüber streiten sich heute nicht nur in Russland die ExpertInnen. Einen wichtigen Sieg hat die russische Regierung zumindest davon getragen. An jedem Verfahren gegen Russland muss auch künftig ein russischer Richter beteiligt sein. Damit lässt sich jedes Verfahren fast nach belieben weiter verzögern.
Wie das geht hat der russische Vertreter beim EGMR Georgij Matjuschkin just am Ratifizierungstag in schönster Unverschämtheit (man könnte das auch eine „diplomatische Demarche“ mit undiplomatischen Mitteln nennen) deutlich gemacht. Seinetwegen wurde die für heute in Straßburg angesetzte Verhandlung einer 100-Milliarden-Dollar-Klage von Ex-Jukos-Eignern gegen den russischen Staat vertagt. Matjuschkin müsse unbedingt in der Staatsduma sein, wenn das 14. Protokoll ratifiziert werde, hieß die Entschuldigung. Doch dort tauchte der russische Diplomat nicht nur nicht auf. Russischen Medien wurde zudem die Information zugespielt, es sei gar kein „Propusk“, kein Passierschein für Matjuschkin bei der Dumaverwaltung für heute bestellt worden.
Der Kreml hat durch die Ratifizierung also etwas gewonnen, er ist die ständigen Ermahnungen und Drängungen losgeworden, doch nicht als allerletzter Bremser die Arbeit des EGMR zu erschweren. Und gleichzeitig konnte er demonstrativ zeigen, dass er weiter in für ihn wichtigen Verfahren (z.B. Jukos, aber auch Tschetschenien) über große Möglichkeiten verfügt, Sand ins Gerichtsgetriebe zu streuen.
Die Ratifizierung genau zum jetzigen Zeitpunkt hat aber noch einen weiteren Grund, der zumindest ein wenig erferulicher ist. In der russischen Führung hat man erkannt, dass der EGMR auch nützlich sein kann. Zum einen kann man, so wie Russland verklagt wird, auch andere Staaten versuchen dort zur Rechenschaft zu ziehen und eventuell an einen internationalen und öffentlichkeitswirksamen Pranger zu stellen. Zum anderen aber eignet sich der EGMR auch für innenpolitische Zwecke.
Präsident Medwedjew hat, mal mehr mal weniger unterstützt von Premier Putin, im vergangenen Herbst wiederholt zwei besondere Herausforderungen für Russland betont: Den Kampf gegen die Korruption und den Aufbau eines funktionierenden Gerichtwesens. Beide Aufgaben sind eng miteinander verbunden: Auch vor Gericht gewinnt häufig derjenige, der mehr zahlt. Und solange das so ist, finden sich auch immer wieder Gerichte, die korrupte Beamte oder ihre Bestecher freisprechen. Und Staatsanwälte, die gar nicht erst anklagen. Und Ermittlungsbeamte, die zwar ermitteln, aber dann ihre Erkenntnisse in der Schublade verschwinden lassen.
Hier könnte der EGMR helfen. Mehr als die Hälfte der aus Russland stammenden Klagen befassen sich mit dem schlechten Funktionieren des russischen Gerichtswesens. Dabei stehen zwei Themenkomplexe ganz vorn: Das eine sind sich endlos hinziehenden Prozesse – wobei von bewusster (oft bezahlter) Prozessverschleppung über Inkompetenz und Schlamperei bis zur Überlastung wegen unzureichender Ausstattung alles vertreten ist. Zum anderen werden viele Gerichtsurteile nicht umgesetzt. Auch hier ist es der Staat in allen seinen Verästellungen von der Regierung über die Regionen bis zu den Kommunen als Verurteilter und nicht, wie man denken könnte, private Gesetzesverletzer derjenige, der sich am häufigsten über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzt. Bei der Zahl an zweiter Stelle der Klagen stehen Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen und Straflagern.
Was nun überwiegt und was das für die politische Situation in Russland bedeutet, wird sich zeigen. Die öffentlichen Kommentare reichen von „reine Kosmetik“ bis zu „“sehr vorsichtige, sehr kleinschrittige Bewegung Richtung Liberalisierung“. Wie fast immer bleibt eigentlich nur, die Ratifizierung grundsätzlich zu begrüßen und gleichzeitig zu fordern, dass sich nun auch praktisch Verbesserungen zeigen müssen, wie das zum Beispiel auch Volker Beck, menschenrechtspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag getan hat.