Katastrophenland ist abgebrannt. Von Fehlern im System und Systemfehlern

In Analysen über Russland ist immer wieder von
den Lenkungsproblemen des herrschenden politischen Systems die Rede. Meist geht
es dabei um die Durchsetzbarkeit politischer Entscheidungen von oben nach
unten, nachdem Putin, nach eigener Aussage und emphatisch-gebetsmühlenartig
wiederholter Aussage seiner Adepten, die sogenannte „Machtvertikale
wiederhergestellt“ hat. Tatsächlich sind mit der Zeit mehr oder weniger
systematisch (über das Systematische oder gar Strategische lässt sich streiten)
immer mehr Entscheidungskompetenzen im Moskauer Machtzentrum konzentriert
worden. Bis in die Kommunen hinein wird die politische und bürokratische
Machtelite von oben bestimmt. Auch für Medien und Wirtschaft gilt das weitgehend.
Gleichzeitig erreicht die Korruption immer neue Höhen. Das
Putinsch-Medwedjewsche Politikmodell hat sich, darüber ist viel schon viel und
ausführlich geschrieben worden, zu einem System der kollektiven
Verantwortungslosigkeit entwickelt. Nun beginnt es seinen Zauberlehrlingen
langsam zu entgleiten. 

In der zweiten Hälfte des Jahres 2009
schwappte eine Katastrophenwelle durch das Land. Im Sommer schwemmten die Wasser
eines sibirischen Wasserkraftwerks Dutzende von Menschen fort, die in den
Fluten umkamen. Im November kam es mehrfach zu verheerenden Explosionen im
Munitionslager von Uljanowsk mit insgesamt mehr als zehn Toten. Ende November
riss eine Bombe den Schnellzug „Newskij Express“ zwischen Moskau und St.
Petersburg aus den Schienen. Es starben mehr als 40 Menschen. Und nun Anfang
Dezember die verheerende Brandkatastrophe im Permer Nachtklub „Das hinkende
Pferd“ mit vorläufig 149 Verbrannten, Erstickten und Vergifteten.

Gewohnt harsch waren die Reaktionen ganz oben
auf diese Unglücke. Schuld waren die Beamten, die Bürokratie, die giereigen
Unternehmer, die Terroristen, kurz: die Anderen. Also, bei allem Schrecken und
Blutzoll, Business as usual an der Spitze. Doch der Permer Brand war anders,
das spürte Putin besser als Medwedjew. Medwedjew beschuldigte in seiner ersten
Stellungnahme ausschließlich die Betreiber des Nachtclubs. Sie hätten „weder
Hirn, noch Gewissen“, weil sie den Anordnungen der Brandschutzbehörde nicht
Folge geleistet hätten. Das wirkte selbst normalen Russen zu selbstgerecht.
Denn instinktiv weiß jeder im Land, selbst ohne eigenes Unternehmen oder
Verantwortung, das die Dinge so nicht laufen.

Überprüfungen von staatlichen Stellen, sei es
der Feuerwehr, des Gesundheitsamts oder des Arbeitsschutzes, bestehen aus zwei
Dingen: einem Umschlag mit Geld und einem Bescheid, was alles verbessert werden
muss. Das Geld wird aber heute in Russland, im Gegensatz zu den ach so
chaotischen Jelzinschen 1990ern, nicht mehr dafür genommen, keine Verfehlungen
zu finden, sondern dafür das Geschäft, den Betrieb, das Restaurant nicht sofort
wegen der ge- oder erfundenen Verfehlungen zu schließen. Die Unternehmen
bleiben so am Haken und die Beamten sichern sich ab. Sie haben ja die Mängel
gerügt und ihre Beseitigung verfügt.

Putin handelte erfahrener (oder zynischer –
wahrscheinlich beides), wenn er nüchterner, aber nicht weniger offen davon
spricht, die Katastrophe in Perm habe „alle Übel unserer Bürokratie“ ans Licht
gebracht, „ihre Inkompetenz, ihre Korrumpiertheit und das Zusammenwachsen mit
der Geschäftswelt dort, wo das unnötig ist und wo man das nicht zulassen darf.“
Der letzte Halbsatz ist verschwörerisch-verräterisch. Er soll den Menschen
sagen: Ich bin nicht von gestern, ich verstehe, wie das System funktioniert.
Auch: Ich kontrolliere alles. Er beschwört damit den ungeschriebenen russischen
Gesellschaftsvertrag, demzufolge sich die oben bereichern dürfen, solange es
denen unten nicht allzu dreckig geht. Die Permer Katastrophe war eindeutig
„allzu dreckig“ und Putin muss versuchen, die Menschen erneut davon zu
überzeugen, dass sie und ihre Vorgänger „Fehler im System“ und keine
„Systemfehler“ sind.

Doch auch Putins im Vergleich zu Medwedjew
erfahrenere Reaktion könnte sich als nicht ausreichend erweisen. Auch er
verhielt sich klassisch-russisch, er gab den „Revisor“. Der „Revisor“ kommt,
räumt mächtig auf, Späne fliegen, Schuldige werden gefunden, bestraft,
entlassen, doch dann verschwindet er auch wieder in der Hauptstadt, der
Bezirksstadt, dem Kreisstädtchen und das Leben nimmt erneut seinen gewohnten
Gang.  Im ganzen Land werden nun
Nightclubs, Diskotheken, Bars von Scharen von Feuerwehrinspektoren heimgesucht,
Hunderte, vielleicht Tausende geschlossen. Allein in Moskau stehen über 80 auf
einer bereits im Internet ausgestellten Streichliste. Aber es sind dieselben
Feuerwehrinspektoren, die schon kamen, Verwarnungen aussprachen, Geldumschläge
annahmen und wieder gingen – um nach angemessener Zeit wieder zu kommen. Auch
Feuerwehrinspektoren erwarten ein regelmäßiges Einkommen.

Dieses durch und durch korrupte System hat
sich über die Jahre von Putins Herrschaft so weit  „vervollkommnet“ (ein Lieblingsbegriff der
russischen politischen Klasse), dass das gesamte Land in seinem Würgegriff
liegt. Daher die aus Sicht einer Gesellschaft, in der Öffentlichkeit eine
politische Rolle spielt und nicht nur Propagandazweck ist, beeindruckende
Schärfe, mit der Medwedjew seit Monaten seine, wie es von außen scheint,
schonungslose Kritik übt. Daher aber auch seine, hier seien ihm ausdrücklich
gute Motive unterstellt, fast völlige Ohnmacht.

Medwedjew hat in den vergangenen 18 Monaten –
in Russland , aber auch im Westen – die Hoffnung genährt, er könne mit ein
wenig Anstrengung und ein wenig Reform etwas zum Besseren ändern. Sein Ton
schwoll dabei immer weiter an. Das kommt vielleicht, weil er zu erkennen
beginnt, dass, wer die Fehler im System beheben will, das System aus den Angeln
heben muss.

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Dieser Text ist am 17.12.09 in den Russlandanalysen Nr. 194 erschienen


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