Wie die deutsche Einheit und das Ende der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" zusammen passen

Morgen jährt sich zum 20. Mal die Öffnung der Berliner Mauer. Auch und gerade in Russland ist das ein bemerkenswertes und bemerktes Datum. Zwar haben in einer unlängst veröffentlichten Umfrage fast die Hälfte der befragten Russen erklären müssen, nicht zu wissen, warum es diese Mauer überhaupt gegeben hat, aber stolz auf ihre friedliche Öffnung sind trotzdem viele. Hier beginnen die Widersprüche politisch zu werden.

Wie inzwischen auch in Deutschland angekommen sein sollte, ist Michail Gorbatschow hierzulande ein durchaus unbeliebter Mensch. Ihm wird (gern auch wider besseres Wissen) der Niedergang der Sowjetuinion zur Last gelegt. Er gilt vielen als schwacher Politiker, manchen gar als Verräter. Dass er in Deutschland bis heute gefeiert, ja verehrt wird, stößt in Russland mitunter auf Unverständnis. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass die deutsche Einheit gleichzeitig meist als „natürlich“ und „unausweichlich“ angesehen wird. So tat es auch heute Abend wieder Wladimir Putin (gegenwärtig Premierminister) in einer 90-minütigen Sendung zum Mauerfall im Fernsehsender NTW. Ihm, so Putin, sei es schon damals klar gewesen, dass die Trennung „widernatürlich“ gewesen sei und dass „kommen musste, was kommen musste“. Nur die DDR-Führung habe das nicht gesehen oder nicht sehen wollen. Damit spricht Putin aus, was die meisten Menschen in Russland auch denken (und meiner, allerdings nicht repräsentativen Erinnerung nach auch vor 20 Jahren auch gedacht haben.

Diese Aussagen Putins wären eigentlich nichts Besonderes und kaum erwähnenswert, wäre da nicht seine Sentenz vom Ende der Sowjetunion als der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Auch diese Einschätzung wird heute in Russland sehr weit geteilt. Wie passt das zusammen? Der Mauerfall, das symbolische Ende der zweigeteilten Welt durch Auflösung einer der beiden Blöcke, ist gut und richtig, die Auflösung des sowjetischen Imperiums aber nicht. Die Antwort ist nicht ganz einfach, auch wenn sie hier nicht erschöpfend gegeben werden kann. Sie hat vor allem etwas mit dem bis heute nachwirkenden russischen Selbstbild zu tun, auch Opfer der Bolschewisten (gewesen) zu sein, aber auch mit der Überzeugung, die Sowjetunion sei nicht a priori das sklavenmacherische „Reich des Bösen“ gewesen, dem der gute „freie Westen“ gegenüber gestanden habe.

Dieses Selbstbild speist sich vor allem aus dem schrecklichen sowjetischen Blutzoll im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, den im Westen oft zu wenig beachteten opferreichen Beitrag zum Sieg über Hitler. Es speist sich aber auch aus dem bis heute anhaltenden Unwillen, sich mit der eigenen totalitären und das eigene und andere Völker unterdrückenden Vergangenheit, also in erster Linie mit Stalin und seiner Herrschaft auseinander zu setzen. Daraus entsteht dann auch ein verdruckstes Verständnis der Berliner Mauer, die einerseits als eben „widernatürlich“ (Putin u.a.) bezeichnet wird, deren Bau Anfang der 1960er Jahre aber andererseits auch, heute eher kleinlaut, gerechtfertigt wird. So antwortete zum Beispiel Anatolij Adamischin, ein ehemaliger sowjetischer, dann russischer stellvertretender Außenminister mit durchaus liberalen Sympathien, heute in einer Sendung des liberalen Radiosenders „Echo Moskwy“, auf die bewusst naive Frage der Moderatorin, warum denn die Mauer überhaupt habe gebaut werden müssen, mit entwaffnender Ehrlichkeit, was man denn sonst hätte tun sollen angesichts der zehntausende Flüchtlinge aus der DDR über Westberlin.

Es ist eine der Errungenschaften der Putinschen Geschichts-Propaganda der vergangenen Jahre, dass die moralischen historischen Orientierungen verloren gegangen sind. Es geht in der russischen Diskussion nur noch selten darum, ob etwas gerechtfertigt war oder nicht, sondern darum, ob es im Sinne des russischen (und das war eben die meiste Zeit im 20. Jahrhundert der sowjetische) Staat richtig war. 1963 war es „richtig“, die Mauer zu bauen, weil sonst die DDR ausgeblutet wäre. 1989 war es dann ebenso „richtig“, sie öffnen zu lassen, weil die Situation nicht mehr zu halten war und die Mauer eben  „widernatürlich“. Es lebe die Realpolitik! Und die Geopolitik sowieso!


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