Man kann und darf wohl nach dem Mord an Natalja Estemirowa ein wenig zynisch werden. In der Überschrift dieses Beitrags erlaube ich mir das. Die Morde in Russland an JournalistInnen und MenschenrechtlerInnen gehen weiter. Die Reaktionen der russischen Führung darauf, nun mit Präsident Medwedjew haben sich geändert, verbessert, wenn auch vorerst nur im Stil. Man mag das als ersten Schritt zu einer grundsätzlichen Änderung begrüßen (und politisch ist das sicher sinnvoll), darf sich aber gleichwohl große Skepsis erhalten. Der Zynismus der Überschrift versucht diese widersprüchlichen Gefühle des hoffen Wollens und Erfahrung Habens auszudrücken.
Vor knapp drei Jahren wurde Anna Politkowskaja ermordet. Zwei Tage vor Beginn des Petersburger Dialogs, damals in Dresden. Dort anwesende NGO-VertreterInnen aus Russland und Deutschland, darunter von Memorial, mussten die Leitung des Dialogs, vorsichtig ausgedrückt, ein wenig pressen, damit der Mord Thema auch in den Plenarsitzungen wurde. Man wollte dieses, wie dort offensichtlich angenommen wurde, für die russischen Gäste unangenehme Thema, in die Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft verbannen. Das gelang nicht und konnte nicht gelingen. Glücklicherweise lässt sich Öffentlichkeit in Deutschland nicht so leicht manipulieren.
Im Plenum nahm dann auch der damalige russische Präsident Wladimir Putin zum Mord an Anna Politkowskaja Stellung. Er ruinierte seine bis dahin gar nicht so schlechten Ruf in Deutschland, indem er zynisch darauf hinwies, dass seine Regierung mit dem Mord nichts zu tun haben könne, weil der Mord ihr mehr schade als es Anna Politkowskaja mit ihren Artikeln je gekonnt hätte. Zwar versprach Putin auch „lückenlose Aufklärung“, aber die Mörder von Anna Politkowskaja und ihre Hintermänner sind bis heute unbekannt.
Dieses Jahr geschah der Mord während des Petersburger Dialogs, der von Dienstag bis Donnerstag dieser Woche in München tagte. Präsident Dmitrij Medwejew hat sich anders verhalten als sein Vorgänger. Er sprach bereits am Abend des Mordtages im russischen Fernsehen den Hinterbliebenen und Freunden Natalja Estemirowas sein Beileid aus. Auch er versprach selbstverständlich, alles zu tun, um die Mörder zu finden und bestrafen zu lassen. Zudem, und das ist neu, verurteilte er ausdrücklich den Anschlag auf eine Menschenrechtlerin. Das war ein politisches Statement.
Am Tag danach in München war Medwedjew schon zurückhaltender. Nach Kanzlerin Angela Merkel, die klare und deutliche Worte fand, wand er sich ein wenig und druckste herum. Warum? Wahrscheinlich weil er sich nach der ersten, menschlich richtigen und vielleicht auch ein wenig emotionalen Reaktion darauf besonnen hatte (oder von seinen Beratern besonnen worden war), dass Aufklärung bedeuten kann, die Tschetschenienpolitik des Kremls in den vergangenen Jahren gefährden. Der erste und sozusagen natürliche Verdacht fiel selbstverständlich auf den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Mit Kadyrow aber fällt die Kremlstrategie des teile und lasse grausam herrschen im Nordkaukasus. Medwedjew musste also den Kreis quadrieren, indem er Aufklärung forderte und Kadyrow verteidigte. Nun den tschetschenischen Präsidenten zu verdächtigen sei die am nächsten liegende und deshalb „primitivste Version“, erklärte Medwedjew also, vor der man sich hüten solle.
Es bleibt aber trotzdem der kleine Fortschritt gegenüber dem Mord an Anna Politkowskaja, dass Selbstverständlichkeiten selbstverständlich geworden sind. Der Petersburger Dialog versuchte sich nicht mehr zu drücken und musste nicht mehr daran erinnert werden, was sich gehört. Und der russische Präsident antwortete nicht mehr zynisch und unverschämt auf die Frage, was er angesichts der Morde an JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen und einfach nur BewohnerInnen im Nordkaukasus und im Land insgesamt zu tun gedenke.
Der Petersburger Dialog druckste herum wie so oft. Zu sagen dort haben auf deutscher Seite sogenannte „Freunde Russlands“, deren Freundschaft vor allem darin besteht, ihre russischen Gegenüber möglichst vor unangenehmen Wahrheiten abzuschirmen. Die Argumente auf deutscher Seite sind immer die gleichen: Man erreiche nichts, wenn man seine Gegenüber reize, sie beleidigt würden, zu machten. Das stimmt und stimmt auch nicht. Denn man erreicht ebenfalls nichts, wenn man schweigt, wo schweigen nicht möglich ist. Heraus kommen unausgegorene Halbheiten, die, wenn es um Fragen der Würde, Fragen von Leben und Tod geht, unanständig werden und eine fahlen Geschmack im Mund hinterlassen.
Das Europaparlament ist angesichts der Nachricht des Mordes an Natalja Estemirowa zu einer Schweigeminute aufgestanden, der Petersburger Dialog nicht. Im Europaparlament wurde von der Menschenrechtlerin und Mitarbeiterin von Memorial gesprochen. Beim Petersburger Dialog wurde aus Natalja Estemirowa eine Journalistin der Nowaja Gaseta und Memorial blieb unerwähnt. Dabei waren mit Arsenij Roginskij und Jelena Schemkowa zwei Memorial-VertreterInnen anwesend.
In Moskau demonstrierten gleichzeitig 50 bis 60 unentwegte auf dem Puschkinplatz gegen die faktische Straflosigkeit bei politischen Morden in Russland, dabei von einer mindestens genau so großen Gruppe Journalisten gefilmt, fotografiert und interviewt. Das ist ein sehr genaues Bild der Situation im Land. Politische Morde sind ein Medienereignis, aber bringen niemanden auf die Straße. Sie erhalten ihre politische Kraft, wenn überhaupt, nicht aus Russland selbst, sondern aus dem Blick von außen auf das Land. Unter diesem Blick erst schämen sich die Menschen und sorgt sich die politische Elite.