Bis heute ist Wladimir Putins Popularität der wichtigste Stützpfeiler politischer Stabilität in Russland. In den Augen vieler Menschen hat er den russischen Staat nach dem weitgehend als „Chaos“ empfundenen 1990er Jahren erst wieder handlungsfähig gemacht. Während seiner Präsidentschaft ist der Wohlstand in Russland gewachsen und die (offizielle und gesellschaftlich gefühlte) Armut ist kleiner geworden. Löhne und Renten werden mehr oder weniger pünktlich bezahlt. Die horrenden Öl- und Gaspreise der Jahre 2002 bis 2008 haben dabei natürlich sehr geholfen. Daneben liegt der Zustimmung einer großen Mehrheit der Russinnen und Russen zu Putins Politik aber auch die Annahme zugrunde, er habe den russischen Staat, indem er vor allem das Zentrum in Moskau, den Präsidenten- und Regierungsapparat gestärkt hat, (nach innen und nach außen) wieder handlungsfähig gemacht.
Dieser Annahme widersprechen viele Kritiker seit langem. Die Konzentration vieler, ja fast aller Kompetenzen in Moskau und vor allem die Ausschaltung aller Checks und Balances, wie Parlament, politische Opposition und unabhängige elektronische Massenmedien (mit der nicht unwichtigen, aber auch nicht ausreichenden Ausnahme des Internets) haben dazu geführt, dass die oben getroffenen Entscheidungen immer schlechter und immer weniger umgesetzt werden. Eines der wichtigsten Zeichen dieser Funktionsprobleme ist die enorme Korruption, die gerade unter Putin systemische Formen angenommen hat. Es geht schon lange nicht mehr nur um einzelne korrupte Beamte, sondern darum, dass in fast allen gesellschaftlichen Bereichen gesetzlich garantierte staatliche Leistung nur dann zu erhalten sind, wenn neben den offiziellen Gebühren bezahlt wird: beim Arzt, in der Schule, bei der Aufnahme in die Universität, bei der (ein Klassiker!) Verkehrspolizei, bei der Polizei, bei der Feuerwehr, bei der Gesundheitsinspektion, bei der Auftragsvergabe, beim Ausländeramt, eigentlich überall.
Die Krise zeigt nun noch klarer, wie die Konzentration aller Macht (und damit auch aller Verantwortung) in den Händen weniger dazu führt, dass auch nur noch diese wenigen ihre eigenen Entscheidungen durchsetzen können. Von den Untergebenen (und das sind fast alle, angefangen von den Ministern bis ganz nach unten in die Kommunalverwaltungen) will das niemand oder wagt das niemand mehr. Dabei verstärken sich zwei Tendenzen gegenseitig. Die erste: Weil Putin (und eine bisschen auch Medwedjew) sich als Retter des Landes gerieren, müssen sie immer wieder persönlich selbst bei kleinsten Problemen eingreifen. Dieses Eingreifen zeigt aber allen, dass es nur einen Weg gibt, zu seinem Recht zu kommen: Man muss versuchen, sich als Bittsteller bis ganz nach oben durchzubeißen. Und es zeigt denen, die die Rechte verweigern oder verkaufen, dass das nur wenigen gelingen kann.
Ein besonders schönes Beispiel der zweiten Tendenz hat Nikolaj Petrov vom Moskauer Carnegie Zentrum in einem Artikel für die Moscow Times unter der Überschrift „Pikalyovo 2009″ sehr anschaulich beschrieben. In Pikalyovo, einer kleinen Stadt zwischen St. Petersburg und der finnischen Grenze, musste jüngst Premierminister Putin persönlich eingreifen. Eine örtliche Fabrik hatte angesichts der Krise ihre Arbeit eingestellt und schon erarbeitete Löhne einfach nicht ausgezahlt. Arbeiter und Anwohner besetzten flugs, während sich in St. Petersburg die Wirtschaftselite zum einem internationalen Wirtschaftsforum (in Russland stolz das „russische Davos“ genannt) versammelte, die wichtigste Überlandstraße von Finnland nach Russland. Pikant und passend war auch, dass die Fabrik dem kremlnahen „Oligarchen“ Oleg Deripaska gehört. Putin kam – und die Löhne wurden gezahlt. Putins Rating (eine der wichtigsten Stabilitätsstützen) ging hoch, aber wieder haben alle gelernt: Nur wenn man ganz oben Aufmerksamkeit erzeugt, gibt es eine Chance, dass sich was bewegt.
Das politische System basiert fast ausschließlich auf der Popularität Putins. Sie muss ständig erneurt, auf hohem Niveau gehalten werden. Das geht, wenn Putin sich als der Retter von allem vor allem und für alle präsentieren kann. Eben dieser Mechanismus unterhölt aber die Handlungsfähigkeit des Staates immer weiter. Das funktioniert im Übrigen nicht nur ganz oben, sondern auf allen Ebenen: in Ministerien, bei den Gouverneuren der Regionen, bei Bürgermeistern, bei den Chefs fast aller Ämter usw. Der von Präsident Medwejew ausgerufene Kampf gegen die Korruption, soll auch dagegen helfen. Tatsächlich verschärft er das Problem sogar. Weil er sich ausschließlich auf administrative Maßnahmen beschränkt (öffentliche Kontrolle bleibt nur sehr schwer möglich) tendiert die Neigung von Beamten, Entscheidungen jenseits der Buchstaben des Gesetzes (häufiger noch jenseits der Buchstaben der Dienstanweisungen) zu treffen, die ohnehin nie sehr groß war, gegen Null. Das gilt besonders, wenn die Entscheidung einmal (und das gibt es trotz allem!) zugunsten eines Bürgers oder einer Bürgerin ausfallen soll. Da niemand (niemand! trotzdem natürlich jeder Beispiele nennen kann, in denen das geschehen ist – eines der besonderen Paradoxa des russischen Lebens) glaubt, Beamten könnten „gut“ handeln, begäbe sich so ein Staatsdiener unweigerlich in schärfsten Korruptionsverdacht. Als Folge wird alles verschoben, weiter geschoben, nach oben geschoben, nach unten zurück gereicht, was nicht in die Standards vorgefertigter und vorgeschriebener Formulare passt. Doch darüber ein andermal mehr.