Problembär Russland
Von Jens Siegert, Heinrich Böll Stiftung Moskau
Der Krieg in Georgien hat die russisch-westlichen Irritationen auf einen neuen Höhepunkt getrieben. Der entschiedene russische Vormarsch rief im Westen großes Erstaunen hervor. Aus Moskauer Sicht wiederum war die westliche Verwunderung über den erst in München brummenden und dann im Kaukasus marodierenden russischen Bären verwunderlich. Alles war angekündigt und vielfach angedroht, aber wohl nicht Ernst (genug) genommen worden. Das neu gewonnene russische Selbstbewusstsein suchte Bestätigung. Es fehlte nur die Gelegenheit. Micheil Saakaschwili hat sie geboten.
Manchmal scheint es, als ob dem Westen nur ein romantischer Blick auf Russland gelingt. Entweder Wiedergänger der Sowjetunion oder nur leicht seltsames und ein wenig zu groß geratenes Transformationsland. Entweder reißender Grizzly oder flauschiger Teddybär. Doch wenn ein Bärenvergleich auf das Land passt, dann eher der arme Problembär Bruno, der vor einigen Jahren Sommers die Alpen von Italien nach Deutschland überquerte. So fremd wie Bruno und die bildzeitungsbefeuerten Oberbayern vor ein paar Jahren stehen sich heute auch der Westen und Russland gegenüber. Glücklicherweise kann man Russland nicht so einfach abschießen wie Bruno. Der Westen und Russland werden miteinander auskommen müssen. Die Finanzkrise hat alle bereits ein wenig bescheidener gemacht.
In Russland verwunderte das Erstaunen des Westens. Dort war von einem Bruch, einer Wende, einer veränderten Welt die Rede. Das sah man in Russland genauso, nur mit dem Unterschied, dass sich der Bruch schon vor knapp zehn Jahren, als Folge der Bomben der NATO auf Belgrad und andere serbische Städte ereignet hatte. Die Gründe des Westens, warum es nicht nur notwendig, sondern legitim war, gegen Serbien Waffengewalt anzuwenden, sind in Russland kaum akzeptiert worden, auch nicht von der demokratischen Opposition. Deshalb war es dem Kreml nun möglich, genau diese Gründe in Bezug auf Südossetien selbst zu nutzen – und damit im Land fast einhellige Zustimmung zwischen Volk und Führung zu erzeugen. Erst als der Kreml überzog und die Panzer nicht an der Grenze Südossetiens halt machten, setzte auch im Inneren vorsichtige Kritik ein.
Die anfangs unbedingte Georgienunterstützung im Westen ist derweil differenzierter geworden. Im wesentlichen gilt folgender Dreisatz: Russland hat anfangs legitimer Weise seine Soldaten und ossetische Zivilisten geschützt, ist dann, schon deutlich die Schwelle zur Selbstverteidigung überschreitend, dazu übergangen, die georgische militärische Infrastruktur auszuschalten und Teile des georgischen Kernlands zu besetzen, um als Letztes völkerrechtswidrig die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens anzuerkennen.
Die Aggressivität, mit der Russland einen „legitimen“ Einflussbereich an seinen Grenzen beansprucht, drängt ein strategisches Dilemma des Westens erneut in den Vordergrund. Denjenigen Ländern, die eine Allianz mit dem Westen wollen und Schutz vor Russland suchen, bieten sich zwei Wege: der Beitritt zur NATO und der Beitritt zur EU. Während die Erweiterung der EU nach Osten sowohl von der politischen Elite als auch der Bevölkerung in Russland weitgehend akzeptiert wird, wurde und wird die NATO-Erweiterung vehement abgelehnt. Das ist keine neue Entwicklung. Schon in den 1990er Jahren war die Ablehnung der NATO-Osterweiterung in der Bevölkerung ähnlich hoch.
Innenpolitisch war der Krieg zuerst ein Erfolg für das neue Führungstandem Medwedjew-Putin. Er vertiefte die in den vergangenen Jahren erzeugte „negative Konsolidierung“ gegenüber äußeren Feinden und machte aus der „belagerten Festung“ Russland in der Kremlpropaganda das Heerlager einer siegreichen Armee. Präsident Medwedjew erreicht inzwischen mit mehr als 70 Prozent fast die Zustimmungsraten seines Mentors, des Premierministers Wladimir Putin. Seit der Nominierung Medwedjews durch Putin im Dezember 2007 waren in Russland und im Ausland vorsichtige Hoffnungen gewachsen, er werde einen zumindest ein wenig liberaleren Kurs einschlagen. Medwedjew hatte Erwartungen auf ein „Tauwetter“ bis zum Frühsommer mit einer Reihe liberaler Signale genährt. Diese Hoffnungen sind mit dem Georgienkrieg zerstoben. Im Land herrscht erneut die bleierne Stimmung aus den letzten Putin-Jahre. Doch die Russland besonders stark durchschüttelnde Finanz- und Wirtschaftskrise dämpft inzwischen die Kriegseuphorie kräftig. Sie bedroht nicht nur die Modernisierungsstrategie des Kreml, sondern die Stabilität des politischen Systems insgesamt. Doch was dann? Das wagt und kann gegenwärtig niemand voraussagen. Wenn es schief geht, droht eine Verschärfung der nationalistischen Tendenzen in Russland mit denen der Kreml in letzter Zeit oft sorglos spielte wie ein Kind mit Streichhölzern. Wenn es gut geht, erzeugt die Krise im Kreml die Einsicht, dass es sich allein und gegen den Westen in einer global eng verflochtenen Welt nicht sonderlich gut lebt.
Im Westen herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass es eine moralische Verpflichtung und politische Notwendigkeit gibt, Georgien und der Ukraine ein ernstes Signal der Unterstützung ihrer Eigenstaatlichkeit zu geben. Gleichzeitig muss dieses Signal in Russland als nicht nur symbolisch wahrgenommen werden, ohne aber zu viele Brücken einzureißen. Das ist eine fast unerfüllbare Aufgabe. Kurzfristig ist Russland zudem in einer Win-Win-Position: Sollte die NATO Georgien und der Ukraine einen Membership Action Plan (MAP) anbieten, würde das in den Augen der meisten Menschen in Russland ihren von Putin behaupteten aggressiven Charakter bestätigen. Sollte die NATO Georgien und der Ukraine kein eindeutiges Angebot machen, zeigte das aber nur, dass der Westen schwach ist und es sich lohnt, wie Putin bestimmt und hart zu sein. Wenn der Westen eine Antwort nur auf dieses Dilemma sucht, wird er verlieren. Es gibt kurzfristig keinen Ausweg daraus. Eine Antwort sollte mehrgleisig ausfallen. Die EU hat ja bereits den Weg für ernsthafte Verhandlungen zu einem neuen Partnerschafts- und Kooperationsabkommen frei gemacht, auch wenn das angesichts der angekündigten Kaliningrader Raketen schwer fiel. Die NATO sollte Georgien und der Ukraine ein Angebot zur institutionellen Zusammenarbeit unterhalb des MAP machen. Zu guter Letzt sollte der Westen, und Barack Obamas Nachdenklichkeit ist schon ein gutes Zeichen, positiv auf die russische Initiative zu einer neuen Sicherheitsstruktur in und für Europa reagieren. Verhandlungen darüber böten eine Chance, über die die USA ohne allzu viel Gesichtsverlust ihren Weg zurück in internationale Rechtsverhältnisse finden könnten. Eine neue und effektive Russlandpolitik wird zudem nur als Teil einer Erneuerung des internationalen Rechtssystems funktionieren. Natürlich hat die russische Initiative auch den Hintersinn, das transatlantische Verhältnis zu trüben und die NATO zu schwächen. Aber der Westen sollte nicht immer wieder so kleinmütig sein und sich vor Russland fürchten. Enge Zusammenarbeit und offener Austausch stärken auf lange Sicht demokratische und offene Gesellschaften mehr als geschlossene und undemokratische.