Neue Repressionsrunde gegen unliebsame NGOs in Russland?

Anfang der Woche wurde das Lewada-Zentrum vom russischen Justizministerium zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Kurz darauf wurde bekannt, dass seit Ende vorige Woche bei Memorial International eine „außerordentlichen Prüfung“ des Justizministeriums läuft, an deren Ende das gleiche Ergebnis stehen könnte. Da beide, Lewada ebenso wie Memorial, Organisationen mit besonderem öffentlichen Status sind, sozusagen (fast) die letzten „Unantastbaren“, stellt sich natürlicherweise sofort die Frage, ob es sich hier nicht um eine neue Staatliche Repressionsrunde gegen unabhängige NGOs handelt. Vorweggesagt lautet die Antwort sehr russisch: ja-nein. Denn ich bezweifele, dass es sich dabei um eine von oben angeordnete und besteuerte Kampagne handelt. Eher haben wir es mit (gewollten wie ungewollten) Nebenwirkungen des politisch-bürokratischen Systems zu tun, dass sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat (und entwickelt wurde).

Die Frage ist also, gäbe es für die politische Führung eine Ratio hinter einer neuen Anti-NGO-Kampagne zu diesem Zeitpunkt. Ich denke eher nicht. Nehmen wir das Beispiel Lewada. Aus zwei Gründen müsste der Kreml das Lewada-Zentrum selbst schaffen (was er zwar nicht könnte), wäre es nich nicht da. Zum ersten braucht gute Politik (selbst wenn darunter nur Machterhalt verstanden wird) einen zumindest einigermaßen realistischen Blick auf die Lage im eigenen Machtbereich. So wie wir alle den anderen russischen Meinungsforschungsinstituten nicht wirklich trauen, tut es auch der Kreml nicht. Besonders er nicht, da ja gerade die Verantwortlichen dort genau wissen, wie deren Umfrageergebnisse zustande kommen. Die Lewada-Umfragen hingegen geben meist ein zumindest soweit realistisches Bild, wie das in einer autoritär regierten Gesellschaft mit eingeschränkt freier Öffentlichkeit möglich ist.

Der zweite Grund für des Kremls große Zufriedenheit mit dem Lewada-Zentrum dürften eben gerade die Ergebnisse jener Umfragen sein, die nach Meinung nicht weniger Kommentator/innen nun dazu geführt haben sollen, gegen die Meinungsforscher/innen vorzugehen. Seit vielen Jahren zeigen die Lewada-Umfragen eine selbst für einen autoritären Staatsführer außerordentliche Zustimmung zu Präsident Putin. Seit Beginn der 2000er Jahre sank sein Lewada-Rating (bitte nicht zu verwechseln mit Zustimmung für diese oder jene Politikfelder) nie unter 60%. Nach der Annexion der Krim stieg es auf knapp 90%, um seither auf rund 80% zu sinken. Phantastische Zahlen. Was kann Putin besseres passieren, als Monat für Monat seine Popularität von einem Institut bestätigt zu bekommen, das als oppositionell gilt, das gar, wie die Kremlpresse nicht müde wird zu erklären, „aus dem Ausland finanziert wird“ (egal ob das nun stimmt oder nicht – es stimmt im Übrigen nicht) und dem alle, auch die meisten seiner Kritiker/innen bestätigen, wissenschaftlich sauber und akkurat zu arbeiten. Würde das wegfallen, wäre es ein schwerer (wenn natürlich auch kein tödlicher) Schlag für die Legitimität putinscher Herrschaft, vor allem natürlich im Ausland, aber auch in Russland selbst.

Bei Memorial gibt es weniger direkte Hinweise darauf, dass die Überprüfung durch das Justizministerium wohl nicht durch eine Anordnung von oben (und damit eventuell als Teil einer Kampagne) ausgelöst wurde. Aber auch die indirekten Hinweise scheinen mir stichhaltig zu sein. Bei einem Treffen Anfang dieser Woche wand sich der stellvertretende Chef der Präsidentenadministration Wjatscheslaw Wolodin mit deutlichem Unwillen, als er auf die Memorial-Überprüfung und die Lewada-Agenten-Einstufung angesprochen wurde. Er und Putin-Sprecher Peskow rieten Lewada, sich vor Gericht gegen das Justizministerium zu wehren. auch andere, meist anonym zitierte Stimmen aus dem Kreml und Umgebung fragen, welchen Vorteil der Kreml zwei Wochen vor den Wahlen an solch einer Eskalation haben könne, während die gesamte (und, wie es scheint, bisher aufgehende) Strategie darauf baut, die Wahlen einerseits zum Image- und Legitimationsgewinn möglichst sauber ablaufen zu lassen und gleichzeitig eine geringe Wahlbeteiligung zu erreichen, um die Chancen der Kremlpartei Einiges Russland (deren Rating den Lewadazahlen zufolge tatsächlich stark gesunken ist) auf eine erneute Zweidrittelmehrheit zu erhöhen.
Hinzu kommt eine Entwicklung der vergangenen drei-vier Jahre, die von oben gezielt gefördert wurde, im Grunde aber eine Regression darstellt. Auf allen Ebenen wird in Russland vielfältig und mitunter mit Genuss wieder denunziert (wobei das russische Wort dafür, „donos“, nicht zwischen Verleumdung und Petzen unterscheidet). Auch die beiden Verfahren gegen das Lewada-Zentrum und Memorial wurde von der Staatsanwaltschaft aufgrund von Anzeigen eröffnet. Zwar hat die Staatsanwaltschaft (oder andere Justizorgane) die Möglichkeit, Denunziationen nachzugehen oder nicht. Ob eine Denunziation also zum Erfolg führt, hängt also auch von der jeweils aktuellen politischen Windrichtung ab. Aber viele Denunziationen und Denunziationen von „wichtigen Stellen“ (wie zum Beispiel oft von jungen, auf Karriere hoffenden Abgeordneten) erhöhen natürlich den Druck.

Aus all diesen Gründen scheint es mir weitaus wahrscheinlicher, dass wir es hier mit der Funktionalität (oder besser: der Dysfunktionalität) des politischen Regimes in Russland zu tun haben. Mein Argument hat zwei Stränge. Der erste hat etwas mit dem Eigensinn des russischen Staatsapparats zu tun. Russland ist zum einen ein legalistischer Staat. Die Gesetze und Regeln sind insofern wichtig als sie formal eingehalten werden müssen oder zumindest so getan werden muss, es also hinter potemkischen Zäunen und auf dem Papier so aussehen gemacht werden muss als ob das geschieht (dass alle wissen, dass das nicht so ist, steht dazu nicht im Widerspruch). Einmal in diesen Apparat eingespeiste Regeln entwickeln dort ein Eigenleben, ein zumindest teilweise von ihren Urhebern unabhängiges. Denn darin sitzen Staatsbedienstete mit doppeltem Interesse: die (institutionalisierten) Regeln formal zu erfüllen und gleichzeitig den (oft mehr erfühlten und antizipierten als konkret gewussten) Erwartungen der politischen Führung zu entsprechen. Hinzu kommen mitunter persönliche Interessen, seien sie politischem, wirtschaftlichem oder anderem Ursprungs. All das zusammen führt zu Handlungen mittlerer und unterer Ebenen, die mit den jeweils aktuellen politischen Notwendigkeiten und Präferenzen überkreuz gehen (zumal viele Gesetze anfags eher als Abschreckung und Warnung gedacht sind, denn unbedingt zur Anwendung zu kommen).

Natürlich gibt es innerhalb des Systems Mechanismen, solche „Fehler“ auszuräumen. Fall solche auftauchen, müssen sie zuerst erkannt werden, was meist dadurch geschieht, dass von außen jemand innen darauf aufmerksam gemacht wird. Dann muss dieses Problem innen auf eine ausreichend hohe politische Ebene gehoben werden und zum Schluss müssen die dort oben zur Meinung kommen, dass dieses Problem zum einen groß und wichtig genug ist, um Aufmerksamkeit zu verdienen und zum zweiten ein Eingriff weniger Schaden anrichtet als die Sache einfach so laufen zu lassen.

In den konkreten Fällen von Lewada-Zentrum und Memorial als NGOs mit landesweiter, ja sogar internationaler Bedeutung, ist die politische Ebene, die hier korrigierend eingreifen könnte, sehr sehr hoch. Selbst der im innerrussischen Maßstab ziemlich mächtige Wolodin dürfte, so wage ich zu behaupten, nicht allein und ohne sich Rückendeckung zu holen, in der Lage sein (oder riskiert es nicht, was so ziemlich das Gleiche ist) die Anordnung zur Korrektur zu geben. Ganz oben werden aber seit einiger Zeit schon kaum noch innerrussiche Probleme für der Aufmerksamkeit ausreichend wichtig erachtet. Dort wird Weltpolitik gemacht. Das weiß natürlich such die Ebene darunter. Die „Kosten“, Probleme zur Lösung nach oben zu bringen (was erstens heißt, dass man sie nicht hatte verhindern können, und zweitens, nicht in der Lage war, sie selbstständig zu lösen), könnten so hoch sein, dass es aus ihrer Sicht mehr Sinn macht, mit ihren Folgen zu leben als sie zu lösen.

Was heißt das nun dafür, wie es mit dem Lewada-Zentrum und Memorial weiter geht? Lewada ist bereits „Agent“ und die Wahrscheinlichkeit, dass auch Memorial dieses Label bald angeheftet wird, ist sehr hoch. In beiden Fällen lassen die geltenden (furchtbaren!) Gesetze, haben die Apparateräder erst einmal angefangen, sich zu drehen, den (meist untergeordneten) Beamt/innen kaum andere Entscheidungsmöglichkeiten. Während für Lewada das „Agenten“-Label das wahrscheinliche Aus bedeutet (Lewada finanziert sich wesentlich durch Marketinguntersuchungen russischer Firmen, die größtenteils Angst haben dürften, einem „Agenten“ Aufträge zu geben), dürfte Memorial mit seiner Netzwerkstruktur eher in der Lage sein zu überleben, wenn auch einzelne Projekte, wie zum Beispiel der Schülergeschichtswettbewerb, der auf Zusammenarbeit mit Schulen und Lehrer/innen angewiesen ist, vor großen, vielleicht unüberwindbaren Schwierigkeiten stehen werden.

Beide, Lewada wie Memorial, werden die Entscheidungen des Justizministeriums (bei Memorial natürlich, wenn es dazu kommt) vor Gericht anfechten. Ob sie damit Erfolg haben werden, wird davon abhängen, ob und wenn ja wie erfolgreich, sich im Kreml (immer aus machtpolitischem Eigeninteresse versteht sich!) jemand von ziemlich weit oben ganz oben für sie einsetzen wird.