Nawalnyj, Pussy Riot, 6. Mai – politische Prozesswelle in Russland

Heute hat das sehr mächtige Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft gegen den Antikorruptionsblogger Alexej Nawalnyj, eine der Führungsfiguren der neuen Protestbewegung, Anklage erhoben. Die Ermittlungen wurden Ende 2010 erstmals aufgenommen, noch bevor Nawalnyj sich landesweiten Internetruhm erwarb. Zwischenzeitlich hatte man sie zweimal eingestellt. Vorgeworfen wird Nawalnyj, er soll als Anwalt und Berater „organisiert“ Eigentum der Firma „Kirowles, veruntreut haben. Der zugehörige Wirtschaftsstraftatsparagraph ist gefährlich. Nach ihm wurden auch Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew im zweiten Verfahren verurteilt, ihrer eigenen Firma alles Öl entwendet zu haben. Maximalstrafe: 10 Jahre. Bei Nawalnyj geht es nun um Holz und im Internet geht bereits der Witz um, der Ermittlungskomiteechef Alexander Bastrykin gehe gegen Nawalnyj vor, weil der allen Wald  geklaut habe und Bastrykin so keine unliebsamen Journalisten mehr dorthin führen könne, um sie mit dem Tod zu bedrohen. Dafür hatte sich Bastrykin vor einem Monat öffentlich entschuldigen müssen.

Doch im Grunde ist die Sache weniger lustig und weitaus banaler: Das Putin-Imperium und seine Prokuratoren schlagen auf allen Fronten zurück oder zumindest zu. Als Waffe haben sie sich, damit guter alter Sowjettradition folgend, die Staatsanwaltschaft und die ihr untertanen Gerichte ausgesucht. Eine ganze Reihe von Gesetzen wurden dazu in den vergangenen zwei Monaten so verschärft, dass sie fast universell gegen oppositionelle und anderweitig unliebsame Menschen einsetzbar sind:

  • das Demonstrationen praktisch verbietenden Demonstrationsrecht;
  • das neue NGO-Gesetz, das AktivistInnen zu Agenten stempeln und so als Verräter hinstellen soll;
  • das heute von Putin unterzeichnete Gesetz über Internetsperren;
  • das erneut in Kraft gesetzte Verleumdungsgesetz, ein erprobtes Instrument der Sowjetmacht im Kampf gegen Andesdenkende.

Allerdings sind die neuen Gesetze bisher Zukunftsmusik. Nach ihnen wurde noch niemand  angeklagt und bestraft. Die Unrechtsjustizmaschine ist darauf auch nicht wirklich angewiesen. Sie hat schon längst bewiesen und beweist jeden Tag neu, dass sie selbst die wichtigste Errungenschaft der herrschenden Elite ist. Universell einsetzbar und dabei weniger erfinderisch als völlig gewissenlos auch noch auf jeden letzten Anschein von Recht und Gerechtigkeit zu pfeifen. Schon im zweiten Prozess gegen Chodorkowskij und Lebedew war die Anklage so an den Haaren herbei gezogen, dass es nicht einmal Sinn zu machen schien, sie juristisch widerlegen zu wollen. Die Anwälte taten das natürlich trotzdem – und sei es nur für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder für bessere Zeiten, wenn dieser Prozess noch einmal wieder aufgenommen und wirklich Recht gesprochen werden kann.

Ähnlich absurd ist die diese Woche begonnene Verhandlung gegen die drei Sängerinnen der Punkgruppe Pussy Riot in genau demselben Chamowniki-Gericht im Moskauer Stadtzentrum, in dem auch Chodorkowskij und Lebedew zum zweiten Mal abgeurteilt wurden. Dort müssen arme Messdiener oder Wachleute als angeblich „Geschädigte“ herhalten, deren Glauben die Punkerinnen derart beleidigt hätten, dass sie dafür für bis zu sieben Jahren hinter den Stacheldraht russischer Straflager gehören. Im Verfahren werden diese Männer von den Verteidigern bis zur Lächerlichkeit auseinander genommen. Man kann  das den Verteidigern nicht vorwerfen, sie tun nur, was sie für ihre Mandantinnen tun müssen. Und sie gehen dabei nicht einmal aggressiv vor. Aber wenn eine Anwältin einen der sogenannten „Geschädigten“ fragt, ob denn das Vergeben Teil der Grundsätze des Christentums sei und der sich hilflos mit der Frage „muss ich darauf antworten?“  an das Gericht wendet, dann zeigt das eine Verunsicherung und Hilflosigkeit, die sich wahrscheinlich auch aus großer Angst speist. Diese öffentliche Verletzung der Würde, diese Verächtlichmachung  von prinzipiell sicher gutwilligen Menschen (der Zeugen/“Geschädigten“, nicht der Angeklagten), ist Schuld und Verantwortung der Staatsanwaltschaft, ja des Putinschen Staates, denen auch die Menschen, die sie zu vertreten und zu schützen vorgeben, kaum mehr als Vieh sind.  Dieser Prozess, so ist zu befürchten, wird so weiter gehen und am Ende werden die drei Frauen wohl zu jahrelanger Lagerhaft verurteilt.

Gleichzeitig laufen gegen 15 meist junge Menschen Verfahren wegen angeblichem Widerstands gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung gegen deren Vertreter am Rande einer Massendemonstration zur Amtseinführung Putins am 6. Mai in Moskau. 13 von ihnen sitzen in Untersuchungshaft, zwei haben Hausarrest. Weitere Verhaftungen oder Beschuldigte sind nicht ausgeschlossen. Zwei der 13 Untersuchungsgefangenen wurde erst Ende voriger Woche festgenommen. Auch sie alle erwarten, sollte es zur Anklage kommen (und daran zweifelt kaum jemand), mehrjährige Haftstrafen.

Zwar hatte es in den Jahren unter Putin (ja, selbst in den Jelzinjahren) immer wieder offensichtlich poilitisch motivierte Verfahren und auch Verurteilungen gegeben. Die letzte und bis heute einzige Nichtverurteilung gab es 1999, als der ehemalige Flottenoffizier und Atom-U-Boot-Inspekteur Alexander Nikitin vom Vorwurf der Spionage freigesprochen wurde. Zu offenbar und zu dilletantisch hatte der Geheimdienst FSB damals die Anklage auf gefälschten und an den Ohren herbei gezogenen „Beweisen“ gestützt. Doch das war 1999, noch unter Jelzin, der dem Vernehmen nach die Order gegeben hatte, sich kremlseits nicht in den Prozess einzumischen, und sollte sich nicht wiederholen. Trotzdem blieben politische Prozesse, ganz im Gegensatz zu ökonomisch motivierten, bisher die große Ausnahme. Die gegenwärtige Prozess- und Anklagewelle deutet darauf hin, dass sich das nun ändert oder schon geändert hat. Die Angst im Kreml vor der neu erstarkten Opposition, die Opposition noch gar nicht ist, sondern nur oder zumindest vor allem Protest, scheint so groß zu sein, dass eine neue Phase und ein neues Niveau politischer Repression erklommen werden.

Ob das nun politisch sinnvoll ist und mittel- oder langfristig Putin die Macht retten wird, weiß niemand. Pussy Riot aber, so das allgemeine Einverständnis in Russland, wäre längst vergessen, wenn ein Gericht den festgenommenen Punksängerinnen zum Beispiel 15 Tage gemeinnütziger Arbeit aufgebrummt hätte und sie dann entlassen. So wurden sie zu landesweiten, ja fast schon weltweiten Heldinnen im Kampf für Freiheit und Kunstfreiheit. Alexej Nawalnyj, dem großer politischer Ehrgeiz nachgesagt wird, könnte, so er verhaftet und verurteilt wird (vorerst bleibt er in Freiheit, darf aber Moskau nicht verlassen), zum neuen politischen Helden und damit wirklich zu einem Herausforderer Putins werden, wovon er bisher noch weit entfernt ist. Doch bis das geschieht, wird es sicher weitere Verhaftungen, Prozesse und dann wohl auch Verurteilungen geben.  Eine kleine Hoffnung mag sein, dass das alles zeigt, wie ernst es um die Putinsche Herrschaft steht.