Nach zwei Jahren hat es Andrzej Wajdas Film „Katyn“ nun doch zu einem größeren russischen Publikum geschafft. Er wurde am Karfreitag Abend zu bester Fernsehzeit im staatlichen Fernsehkanal „Kultura“ gezeigt. Anschließend diskutierte eine Runde aus Politikern, Historikern und Filmemachern. Dieses Ereignis allein ist bemerkenswert. Es wurde dank einer schrittweisen Annäherung Polens und Russlands möglich, über die ich in diesem Blog immer wieder, gerade auch am Beispiel des Umgangs mit dem Katyner Verbrechen geschrieben habe (Um diese zahlreichen Blogeinträge zu finden, bitte in der Themenwolke rechts auf den Begriff „Geschichte“ klicken).
Erst schlug der neugewählte polnische Premierminister Donald Tusk versönlichere Töne Russland gegenüber an, als sein notorisch russlandkritischer Zwilling-Vorgänger Kaczynski. Dann nannte der von Tusk nach Polen zu den Gedenkfeiern anlässlich der 70. Wiederkehr des Kriegsanfangs eingeladene Premierminister Wladimir Putin die Morde an polnischen Offizieren von Katyn 1940 ein „Verbrechen“, ohne dieses Verbrechen gleichzeitig durch einen Vergleich mit den zehntausenden, 1920/1921 in polnischer Kriegsgefangenschaft umgekommenen Rotarmisten zu relativieren. Zwar erwähnte Putin auch diese, nannte ihren Tod aber eine „Tragödie“. Ein feiner, aber bedeutender Unterschied.
Im Februar diesen Jahres dann ludt Putin Tusk ein, mit ihm zusammen in Katyn der ermordeten Polen zu gedenken. Tusk nahm die Einladung umgehend an und wird am 7. April nach Russland kommen.
Die Ausstrahlung von Wajdas sehr persönlichem Film im russischen Staatsfernsehen war ursprünglich wohl nicht vorgesehen, sondern wurde recht spät beschlossen. In den Fernsehprogrammen tauchte der Film erst vor etwa zehn Tagen auf. Was die russische Staatsführung (von ihrem Wirken muss man hier ausgehen) dazu bewogen hat, bleibt bisher unklar. Wohl wollte man ein weiteres Zeichen guten Willens setzen. Es mag auch sein, dass Donald Tusk in der innerpolnischen Auseinadersetzung über die Russlandpolitik des Landes (und die hat immer mit Katyn zu tun) gestützt werden soll.
Immerhin wird drei Tage nach Tusk, am 10. April, auch Präsident Lech Kaczynski zum Totengedenken nach Katyn kommen. Kaczynski kommt allerdings nicht auf kollegiale Einladung von Russlands Präsident Medwedjew, sondern auf eigenen Wunsch. Und so wird am 10. April auch Medwedjew nicht nach Katyn kommen, sondern nur ein niederrangigeres Regierungsmitglied und das wohl auch nur, weil Staatsoberhäupter nach diplomatischem Brauch nie inoffiziell in anderer Herren Länder reisen.
Doch zurück zu Ausstrahlung des Wajda-Filmes. Zuvor war der Film, nur zweimal halböffentlich in Russland zu sehen gewesen. Einmal im Frühjahr 2008 vor ausgewählten Gästen im polnischen Kulturzentrum und einmal von Memorial organisiert im Zentralen Haus des Literaten, vor ebenfalls ausgewählten rund 500 Zuschauern. Andrzej Wajda war beide Male anwesend und wurde mit sehr viel und sehr warmem Applaus bedacht. Doch das waren beides Heimspiel, da die Auswahl auf das „andere Russland“ gefallen“ war. Nun also durfte endlich auch ein unausgewähltes und noch dazu potentiell (der Kanal „Kultura“ ist vom Programm und der Zuschauerzahl her eher mit Arte als mit RTL zu vergleichen) unbegrenztes Publikum den Film sehen.
Doch mit solch einem Film wird das Publikum in Russland nie allein gelassen. Deshalb folgte ihm die schon erwähnte längliche Politiker-Filmregisseur-Historiker-Runde. Die Diskussion zeigte zweierlei: Die (leider alten) Grenzen von historischem Scham und historischer Reue in Russland heute, aber auch die (ein wenig neuereren) Grenzen mal auftrumpfender, mal weinerlicher Selbstgerechtigkeit. Niemand in der durchaus illustren Runde (Oberregisseur Nikita Michalkow, Duma-Auswärtiger-Ausschuss-Vorsitzender Konstantin Kosatschow und mehrere mehr oder minder bekannte Historiker, aber niemand von Memorial oder anderen offenen Kritikern staatlicher Geschichtpolitik) mochte dem Film künstlerische Qualität absprechen.
Alexander Tschubarjan, Direktor des Institut für Weltgeschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften und damit einer der offiziellen russischen Oberhistoriker, nannte den Film „stark“. Er rühre an einem der wunden Punkte des 20. Jahrhunderts. Und: „In seiner Mischung aus dokumentarischen und künstlerischen Elementen entspricht er den in den Archiven zu findenden dokumentarischen Fakten.“ Diese klare Bewertung ist, über 20 Jahre, nachdem Michail Gorbatschow die Archive zu Katyn öffnen ließ, leider beileibe heute in Russland immer noch keine Selbstverständlichkeit. Diese Aussage markierte aber auch schon die Reue- und Schamgrenze.
Regisseur Michalkow warf Wajda vor, er haben „das Böse ohne Gesicht“ gezeigt. Tatsächlich sind im Film die Gesichter der ausführende Mörder nicht zu sehen, wohl aber die der befehlenden sowjetischen Politiker. Ein weiterer Historiker, Andrej Artisow, gab etwas wiedersprüchlich zu bedenken, in Katyn „wurden nicht Polen ermordet und es waren nicht Russen, die mordeten, obwohl Polen in die Gräben fielen und Russen ihnen in die Nacken schossen.“ Außerdem seien in den Jahren zuvor an gleicher Stelle weit mehr Sowjetbürger erschossen worden als 1940 polnische Offiziere. Um das zu verstehen, assistierte ein Politologe, der Leiter des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen an der dem Außenministerium unterstellten Moskauer Hochschule für Internationale Beziehungen (MGIMO) Michail Narinskij: Es gehe hier nicht um die Grausamkeit einzelner Personen, das seien die „Wirkungsmechanismen des Stalinismus“ gewesen. Hier schaltete sich der Außenpolitiker Konstantin Kosatschow von der Kremlpartei „Einiges Russland“ ein: „Ich denke, dass das die Vernichtung von Regimefeinden durch ein Regime war. Niemandem ging es hier darum, ob das nun Polen waren. Die Maschine hat einfach ihre Gegner vernichtet.“
Regisseur Michalkow sprach dann das Schlusswort dieser denkwürdigen Runde: „Entweder bewegen wir uns gemeinsam weiter oder wir fahren fort in dieser Wunde zu stochern. Man darf sie niemals vergessen, aber man darf sie auch nicht ewig vergiften.“ Diese Sentenz trifft wahrscheinlich das Gefühl vieler Menschen in Russland, sicher aber ein sehr weit verbreitetes innerhalb der herrschenden politischen Elite: Nun habe man sich zu der Tat bekannt und damit sollten es die Polen endlich gut sein lassen. Das erinnert sehr an die ersten zaghaften deutschen Versuche zu einer Versöhnung mit Polen nach dem Krieg. Und wie den Deutschen damals, wird dieser Wunsch auch den Russen heute kaum helfen, den schweren und dornigen Versöhnungsweg abzukürzen.