Die Meldung klang sehr orientalisch. Ramsan Kadyrows, des tschetschenischen Präsidenten Mutter, bat ihren Sohn öffentlich, in einem Internview, doch seine Klagen gegen „hochbetagte“ Menschenrechtler zurück zu ziehen. Das gebiete der Respekt gegenüber älteren und würdigen Menschen. In Moskauer Menschenrechtskreisen fragte man sich schnell, wen Kadyrows Mutter wohl außer Ludmila Alexejewa (sie darf sich tatsächlich mit ihren 82 Jahren „hochbetagt“ nennen, auch wenn ihre politische Wachheit und Agilität dazu nicht so recht zu passen scheint) gemeint haben kann.
Schon einen Tag später kam es heraus: die Nowaja Gaseta und Oleg Orlow, Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial. Kadyrow habe die Entscheidung getroffen, seine „Klagen gegen Orlow, Alexejewa und eine Gruppe von Journalisten zurück zu ziehen“, verkündete der Pressesprecher des tschetschenischen Präsidenten. Die Nowaja Gaseta erschien am 1. April 1993 das erste Mal. 17 Jahre ist eigentlich noch kein Alter. Und Oleg Orlow ist zwar, seit ich ihn 1991 in Köln im Rahmen einer von der Heinrich-Böll-Stiftung organisierten Inspektionsreise von Memorial-AktivistInnen durch deutsche Gefängnisse kennen gelernt habe, ein wenig ergraut, mit 56 aber auch noch kein Greis.
Warum diese Altersverwirrung? Ganz einfach: Um plump vom eigentlichen Grund des Rückzugs abzulenken, ist Oleg Orlow überzeugt. Und damit Ramsan Kadyrow großmütiger erscheint als er in Wirklichkeit ist. Zurück ziehen kann Kadyrow lediglich die Anzeigen gegen Ludmila Alexejewa und die Nowaja Gaseta. In dieser Sache wird noch ermittelt, das Verfahren ist noch nicht vor Gericht gelangt. Auch hat selbst die Staatsanwaltschaft durchblicken lassen, dass sie nicht geneigt ist, Anklage zu erheben. Zu dünn ist selbst nach heutigen russisch-manipulativen Maßstäben die Beweislage. Das gilt auch für ein zweites Verfahren, diesmal ein Strafverfahren, gegen Oleg Orlow wegen übler Nachrede.
Im ersten Verfahren, einem Zivilprozess, wurden Oleg Orlow und das Menschenrechtszentrum Memorial schon rechtskräftig verurteilt. 70.000 Rubel (ca. 1.600 Euro) sollen sie Ramsan Kadyrow als Schmerzensgeld zahlen, der allerdings 10 Millionen Rubel gefordert hatte. Außerdem soll Orlow seine Behauptung widerrufen, Kadyrow sei für den Mord an Natalja Estemirowa und andere Morde in Tschetschenien „schuld“. Oleg Oleg Orlow und Memorial haben gegen dieses im vergangenen Oktober ergangene Urteil eines Moskauer Gerichts Berufung eingelegt und wollen die Sache notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchfechten.
Hier verschleiert Kadyrow, wenn er erklären lässt, seine Anzeigen und Klagen zurück zu ziehen. Das Urteil ist geprochen und kann auch durch den in seiner Republik fast allmächtigen tschetschenischen Präsidenten nicht mehr zurück genommen werden. Ähnlich schwierig sieht die Sache mit dem Strafverfahren gegen Oleg Orlow aus. Nach einer ersten Anzeige Kadyrows noch im vergangenen Sommer hatte sich die Staatsanwaltschaft geweigert, Anklage zu erheben. Doch Kadyrow legte dagegen Beschwerde ein und eine höhere Instanz bestimmte, doch ein Verfahren einzuleiten. Kadyrow wird also schon seine Verbindungen nach ganz oben spielen lassen müssen, um das noch zu stoppen.
Ausführliche Informationen auf Russisch und Englisch über alle Verfahren gibt es auf der Website von Memorial.