In der Ukraine finden im Januar Präsidentenwahlen statt – und in Russland ist alles ruhig. Die Wahlen vor fünf Jahren sind in Russland in sehr schlechter Erinnerung. Erst „gewann“ der aus Moskau massiv unterstützte Kandidat Viktor Janukowitsch. Putin, damals noch Präsident, hatte gar schon gratuliert. Doch dann kam es zur durch organgene Massendemonstrationen in Kiew erzwungenen Wiederholung der Wahl, Viktor Juschtschenko wurde Präsident und Putin war blamiert. Erst der kreml und dann (fast) das ganze Land schäumten angesichts dieser Niederlage, die einer kollektiven Erniedrigung gleich kam. „Unsere“ Ukraine hatte Russland verraten! Dahinter konnten nur finstere Mächte gesteckt haben, deren Spuren sich bis ins Washingtoner Weiße Haus zurück verfolgen ließen. In Moskau begann eine rund ein Jahr währende „orangene“ Hysterie, deren sichtbarstes Ergebnis das neue, repressive NGO-Gesetz war.
Die Schmach ist bis heute nicht vergessen. Immer wieder taucht sie auf. Rund um den NATO-Gipfel im Dezember 2007, als es um einen mglichen Beitritt der Ukraine und Georgiens ging. Bei den Gasstreitigkeiten Anfang 2006 und Anfang 2008. Dann wieder im Sommer 2008 als Begleitmusik zum Georgienkrieg. Schrill, irrational und jenseits aller legitimen russischen Interessen. Die Angst, die Ukraine könne endgültig Richtung Westen, ausgerechnet zum alten Feind NATO abwandern verdunkelte immer wieder das Urteilsvermögen vieler ansonsten wohlinformierter und klug argumentierender Experten.
Und heute, gut zwei Monate vor den Präsidentenwahlen in der Ukraine? Fast schon gespenstige Stille, jedenfalls nichts, was auch nur entfernt an die orangene Hysterie vergangener Tage erinnert. Hier und dort sind Fernsehreportagen zu sehen, in fast neutraler Tonlage, wenn auch die Sympathien eindeutig bei Janukowitsch bleiben. Was ist passiert? Ganz einfach: Ganz Russland ist davon überzeugt, dass man diesmal nicht verlieren kann. Das hat nicht nur, wohl nicht einmal in erster Linie etwas damit zu tun, dass die Chancen des, aus russischer Sicht, Bösen in Präsidentengestalt, von Viktor Juschtschenko, verschwindend gering sind und Viktor Janukowitsch gegenwärtig Umfragefavourit. Wichtiger ist wohl, dass die für den Kreml potentiell gefährliche Systemfrage durch die Ukraine nicht mehr gestellt wird, jedenfalls nicht in Russland.
Das politische Chaos im südlichen Nachbarland, vor allem aber die wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben die Frage, ob nicht auch Russland mit einem politischen System besser gestellt wäre, dass wirkliche demokratische Wahlen zulässt, für die meisten Russen deutlich mit „nein“ beantwortet. Sicher nicht besser, vielleicht aber schlechter. Zwar ist das Vertrauen in das „System Putin“ (im Gegensatz zum Vertrauen in Putin) auch nicht sonderlich hoch. Dafür aber ist es einigermaßen ruhig und scheint vorhersagbar. Zudem hat sich die aufregende Frage eines Beitritts der Ukraine zur NATO vorerst von selbst erledigt. Das beruhigt politische Elite und Volk in Russland ungemein. Mit dem erwarteten und erhofften neuen Präsidenten Janukowitsch glaubt man sich zudem in bisher unlösbar scheinenden Fragen einigen zu können, vielleicht nicht leicht (der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko ist hier warnendes Beispiel), aber letzlich doch zu für Russland akzeptablen Bedingungen.
Genau das aber könnte sich als Trugschluss erweisen. Auch wenn sich der Ton zwischen Moskau und Kiew nach den Wahlen ändern sollte, werden die drei wichtigsten Streitpunkte bleiben: Gas, Schwarzmeerflotte und russische Sprache. In allen drei Fällen geht es für die Ukraine um die Frage nach langfristiger Eigenstaatlichkeit oder Rückkehr unter russische Fittiche. Und in allen drei Fällen wird, so wage ich vorauszusagen, auch ein grundsätzlich russlandfreundlicher Präsident Janukowitsch hart bleiben (müssen).
Die Ukraine wird auch unter Janukowitsch nicht davon lassen, ihr Gastransportsystem zu modernisieren. Dafür wird sie westliche Kredite russischer Finanzierung vorziehen, weil westliche Kredite nicht die Gefahr beinhalten, am Ende des Eigentums am Gastransportsystem verlustig zu gehen. Russland wird seinerseits auch deshalb weiter an die Ukraine umgehenden Gaspiplines wie die Ostseepipeline oder den Southstream arbeiten.
Auch in der Frage der russichen Schwarzmeerflotte bleiben die Handlungsmöglichkeiten eines neuen Präsidenten Janukowitsch eingeschränkt. Spätestens zum Ende der nächsten präsidialen Amtperiode muss über eine Verlängerung des russichen Pachtvertrags für die Flottenbasis in Sewastopol auf der Krim entschieden werden oder sein endgültige Kündigung. Für eine Verlängerung aber müsste die ukrainische Verfassung geändert werden. Es ist kaum zu erwarten, dass der neue Präsident (die mögliche neue Präsidentin Julija Timoschenko wird das nicht wollen wollen) dafür in der politisch fragmentierten Ukraine eine Mehrheit zustande bekommen wird.
Bleibt die Frage der Staatssprache(n). Hier gilt das Gleiche wie für die Schwarzmeerflotte. Auch um das Russische neben dem Ukrainischen zur Staatssprche zu erheben, ist eine Verfassungsänderung nötig, für die aber keine Mehrheit in Sicht ist. Außerdem ist auch diese Frage, wenn auch mehr symbolisch als praktisch, mit der staatlichen Eigenständigkeit der Ukraine eng verbunden. Auch der „russlandfreundliche“ Vorgänger von Juschtschenko, Leonid Kutschma hat letztlich, trotz einiger Ankündigungen, am Sprachenstatus nicht gerüttelt.
Der russischen politischen Elite besteht wohl eine lange Lernphase bevor, deren Inhalt man folgendermaßen beschreiben könnte: Die ukraine politische Elite (und damit die ukrainische wirtschaftliche Elite) zieht die Herrschaft im eigenen Land einer ungewissen Zukunft in Russland (oder gar einer möglichen Knechtschaft) vor.