Am vergangenen Donnerstag hat das Europaparlament Memorial den diesjährigen Sacharow-Preis zuerkannt. Das ist eine gute und hilfreiche Entscheidung, die über 20 Jahre konsequenten Einsatz für die Beachtung von Menschenrechten in Russland würdigt.
Die Meldung der Preisverleihung ging durch alle Ticker und bis in die seriösesten Presseorgane hinein gab es Zustimming zu dieser Entscheidung – zumindest im Westen. In Russland wurde diese Entscheidung meist nur sehr kurz gemeldet und kaum kommentiert. Das mag schon ein Fortschritt sein. Es hätte auch eine Reihe übler Schimpftiraden erfolgen können über westliche Einmischung in russische Angelegenheiten und russische Verräter, die westlichen Interessen dienen. Aber nein. Das heißt zwar nicht, dass das nicht noch kommen kann, ist aber erst einmal ein kleiner Fortschritt.
In einem aber sind sich die meisten russischen und westlichen Medien ähnlich: Sie haben blind übernommen, was das Europaparlament entschieden hat, die richtigen Informationen wie die Fehler. Das zeigt zweierlei: Erstens wie heute, soll heißen in Zeiten des Internets, die meisten Medien arbeiten und wie sich Meldungen vervielfältigen. Und zweitens, wie wenig viele JournalistInnen in Russland und im Ausland über russische Nichtregierungsorganisationen im Allgemeinen und über Menschenrechtsorganisationen im Besonderen wissen. Leider.
In diesem Fall waren es in erster Linie zwei Fehler. Der erste: Das Europaparlament hat den Sacharow-Preis drei Personen „stellvertretend für Memorial“ zuerkannt. Sergej Kowaljow und Oleg Orlow sind auch tatsächlich Mitglieder (wenn auch nicht „Mitarbeiter“, wie oft geschrieben wurde) von Memorial. Ludmila Alexejewa hat aber mit Memorial außer einer durchaus engen politischen Freundschaft (und vielen persönlichen Freundschaften mit Leuten von Memorial) nichts zu tun. Sie ist Gründerin und bis heute Vorsitzende der Moskauer Helsinki Gruppe, einer ehrenwerten Menschenrechtsorganisation, die hervorragende und notwendige Arbeit macht, aber eben nicht Memorial ist.
Der zweite Fehler liegt darin, dass in vielen Meldungen Oleg Orlow zum Vorsitzenden von Memorial gemacht wurde. Orlow ist tatsächlich Vorsitzender einer Organisation, die das Wort „Memorial“ im Namen trägt, nämlich des Menschenrechtszentrums Memorial. Und er ist Mitglied im Vorstand von Memorial International. Das hört sich nun sicher verwirrend und vielleicht ein wenig kleinkariert an. Es ist aber, auch um die besondere Stellung zu verstehen, die Memorial in Russland (insgesamt und in der NGO-Szene) hat, von Bedeutung. Dazu ein paar Zeilen.
Memorial International ist eine große Konföderation von mehr als 100 juristisch eigenständigen Organisationen in Russland, der Ukraine, Lettland, Kasachstan, Usbekistan, Deutschland und Italien. Rund 80 dieser Organisationen sind in Russland beheimatet und bilden neben Memorial International noch Memorial Russland. Die meisten der 100 Memorials sind regionale Gruppen, einige, vielleicht 20 größer mit teils mehr als 30.000 Mitgliedern und über 100 MitarbeiterInnen. Daneben gibt es noch einige wenige thematisch spezialisierte Organisationen. Zu ihnen gehören das Wissenschaftliche Forschungs- und Aufklärungszentrum Memorial in Moskau, das sich vor allem mit der Erforschung der totalitärenm sowjetischen Vergangenheit und den Menscherechtsverletzungen damals beschäftigt, und das Menschenrechtszentrum Memorial (dem Oleg Orlow vorsteht), das Menschenrechtsmonitoring betreibt, in erster Linie im Nordkaukasus, aber auch in anderen Regionen Russlands und in Zentralasien.
VertreterInnen all dieser Memorial-Organisationen wählen alle zwei Jahre je einen Vorstand von Memorial International und (die russischen) von Memorial Russland, die Memorial insgesamt nach außen vertreten. Kurze Biographien der Mitglieder des gegenwärtigen Vorstands gibt es auf der Website von Memorial.
Die eben beschriebene Vielfalt, aber auch die Größe sind ein Grund, warum Memorial so besonders ist. Der zweite ist die hoch entwickelte demokratische Kultur innerhalb der Organsaition. Das ist auch, aber nicht nur das Verdienst der dort wirkenden Menschen. Wahrscheinlich bedingen Vielfalt, relativ große Unabhängigkeit der einzelnen Organisationen und innere Demokratie einander. Nur so konnte Memorial so groß werden und Platz für so viele starke Persönlichkeiten bieten.
Kleiner Einschub: Es ist eine wesentliche Schwäche russischer Organisationen (und das meint bei weitem nicht nur NGOs, sondern bezieht sich auf alle Bereiche des öffentlichen und politischen Lebens), oft „Führerorganisationen“ zu sein, mit einer starken, oft auch charismatischen Figur an der Spitze. Wer darunter groß wird, wird meist weg gebissen oder geht von alleine – um dann in einer eigenen Organisation möglichst eine ähnlich herausragende Stellung einzunehmen. Die Atomisierung der sowjetischen Gesellschaft und ihre durch und durch patrirachale Struktur wirkt auch hier immer noch fort.
Die dritte und vielleicht wichtigste Besonderheit von Memorial aber ist der zumindest in Russland einmalige Aufgabendreiklang, den sich die Organisation gegeben hat: Erforschung und Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit, Einsatz gegen Menscherechtsverletzungen in der Gegenwart und soziale Fürsorge für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Erst dieser Dreiklang macht die tiefe soziale und gesellschaftliche Verankerung möglich, die Memorial hat und die immer wieder die Kraft und Standfestigkeit ermöglicht, sie auch heute noch in Russland nütig ist, wenn man sich konsequent für seine eingenen demokratischen und bürgerlichen Rechte und für die aller anderen Menschen einsetzt.