Die Wirtschaftskrise in Russland dauert nun schon, mit kleineren Aufs und größeren Abs, mehr als sechs Jahre. Ein Ende ist nicht in Sicht. Die politische Führung verspricht zwar und immer wieder baldige Besserung (was sollte sie auch sonst tun?). Doch selbst Präsident Putin (der sich eher selten in die Niederungen der Wirtschaftspolitik herablässt), sprach Mitte Oktober auf einem Wirtschaftsforum davon, dass zwar „der Höhepunkt der Krise erreicht“ sei, die Wirtschaft „sich an die veränderten Bedingungen angepasst“ habe und sich die Situation stabilisiere, es aber „in vielen Sektoren der Wirtschaft immer noch nach unten“ gehe. Dazu passt auch die Aussage von Zentralbankchefin Elwira Nabiullina von voriger Woche, 2016 werde die russische Wirtschaft, entgegen bisheriger Regierungsprognosen, wohl erneut schrumpfen, wenn auch nur ein wenig.
Lange versuchte die russische Führung, die Krise vor allem mit äußeren Faktoren zu erklären: die „westliche“ Finanzkrise, der fallende Ölpreis, die westlichen Sanktionen. Diese Versuche dauern zwar an, aber immer mehr Menschen im Land dämmert: Die Krise ist vor allem selbst gemacht. Alexander Ausan, Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Staatsuniversität, Mitglied zahlreicher Regierungskommissionen und qua Amt einer der wichtigsten russischen Ökonomen, flüchtet sich inzwischen in (wenn auch noch milden) Sarkasmus. Es gebe drei Möglichkeiten, die Krise zu überwinden, leitete er jüngst an seiner Fakultät die Vorstellung der russischen Ausgabe von Ralf Fücks Buch „Intelligent Wachsen“ zu einem ökologischen Wirtschaftsumbau ein, nämlich erstens, wenn der Ölpreis steigt, zweitens, wenn das Investitionsklima deutlich besser wird, oder drittens, wenn ein Wunder geschieht. Er, Ausan, halte die dritte Möglichkeit für die Wahrscheinlichste. Viele der zahlreich anwesenden Wirtschaftswissenschaftler lachten.
Was das „Wunder“ wäre, sagte Ausan nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich: eine politische Wende, die sich momentan in und für Russland aber (oh Wunder!) kaum jemand vorstellen kann. Jedenfalls nicht mit dieser Führung, die so fest im Sattel zu sitzen scheint, dass eben schon ein Wunder geschehen müsste, sollte sich das ändern. Wie es ohne dieses Wunder aussieht, will ich versuchen ein wenig am gerade von der Regierung vorgestellten Staatshaushalt für 2016 und einigen anderen Wirtschaftszahlen zu erläutern.
Erst einmal zur Einordnung. Der russische Staatshaushalt ist nach der massiven Rubelabwertung seit Ende 2014 (in US-Dollar oder Euro gerechnet) ziemlich geschrumpft. Mit rund 220 Mrd. Euro entspricht er etwa dem von Belgien oder der Schweiz. Nicht wirklich riesig also für ein Land mit Weltmachtanspruch. Das US-Budget (weil sich das Land eben so gern mit den USA misst) ist rund 16 Mal größer. Allein das Defizit des US-Haushalts ist zweimal größer als der gesamte russische Staatshaushalt. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bleibt das russische Defizit mit geplanten 2,8 % für 2016 übrigens innerhalb der in der Eurozone geltenden Grenzen. Allerdings muss dafür auf der Einnahmenseite ein wenig getrickst werden. Die Regierung plant 2016 zwei Drittel des in den fetten 2000er Jahren angesparten Reservefonds auszugeben. Eine Kreditaufnahme zur Defizitdeckung wäre, trotz vergleichsweise geringer Staatsverschuldung, schwierig. Im Inland gibt es keine Banken, die so hohe Kredite vergeben könnten. Die Volkswirtschaften der BRICS-Länder erleben ebenfalls schwierige Zeiten. Im Westen gelten die (Finanz-)Sanktionen der USA, der EU und einer Reihe anderer Länder wegen des Kriegs in der Ostukraine.
Während die Regierung beim Haushalt für dieses Jahr noch auf einen steigenden Ölpreis gesetzt hatte (und sich im Jahresverlauf mehrfach korrigieren musste) gibt sie diese Hoffnung für 2016 auf. Der dem Haushalt zugrunde liegende Preis für ein Barrel ist mit 50 bis 55 US-Dollar bei einem Dollar-Rubel-Kurs von 1 zu 63 durchaus konservativ angesetzt. Der für die Haushaltsplanung wichtige Rubelpreis für Öl im Inland wird weiter mit 3100 bis 3300 Rubel pro Barrel angesetzt. Das entspricht einem langjährigen Mittel.
Trotz dieser auf den ersten Blick vorsichtigen Haltung auf der Einnahmenseite (wenn wir einmal von den zugeschossenen Reserven absehen, die es nächstes Jahr noch gibt, dann aber, sollte es nicht aufwärts gehen, nicht mehr) ist das Budget durchaus optimistisch. Denn die Regierung geht davon aus, dass die in diesem Jahr vor allem wegen der den Lebensmittelimport limitierenden russischen Gegensanktionen wahrscheinlich auf mehr als 15 Prozent steigende Inflation 2016 auf 5 bis 6 Prozent zurückgehen wird (was außer der Regierung aber kaum jemand glaubt). Außerdem liegt dem Haushalt die Annahme zugrunde, es werde ein, wenn auch sehr kleines, Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent geben (wovon, siehe oben, die Zentralbankchefin bereits in der gleichen Woche abgerückt ist, in der die Regierung den Haushaltsentwurf dem Parlament zugeleitet hat).
Wenig Hoffnung auf eine wirtschaftliche Erholung macht auch die Ausrichtung des Haushalts: mehr fürs Militär, immer weniger für Sozialleistungen. Zwar bleiben die Renten mit einem guten Viertel der Ausgaben der größte Posten, aber sie wachsen schon seit dem Vorjahr viel langsamer als die Inflation und das soll, den Regierungszahlen zufolge, auch 2016 so bleiben (selbst Regierungsökonomen fordern seit einiger Zeit offen die Anhebung des Renteneintrittsalters, weil anders das Rentensystem nicht zu retten sei). Der Militärhaushalt wächst dagegen weiter und soll 2016 bei umgerechnet gut 45 Mrd. Euro liegen.
Viel schlechter sieht es da aus, wo die Zukunft des Landes gemacht werden müsste. Die Finanzierung der Wohnungswirtschaft und des Wohnungsbaus wird um über 40 Prozent gekürzt, die Bildung um knapp 8 Prozent, die Gesundheitsversorgung um gut 10 Prozent (ein kleiner Vergleich: Pro Kopf liegen die Gesundheitsausgaben in Deutschland rund 50 Mal höher als in Russland). Es werden also, böse gesprochen, nicht nur mehr russische Soldaten sterben, sondern wohl auch Bürger, die mit Krieg gar nichts zu tun haben.
Um das Bild zu vervollständigen, noch einige weitere Wirtschaftszahlen: Die Industrieproduktion ist in den ersten neun Monaten des Jahres 2015 um 5 Prozent gesunken, in der verarbeitenden Industrie beträgt der Rückgang rund 10 Prozent. Selbst Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie, die doch von den Gegensanktionen profitieren sollten, treten auf der Stelle. Das dürfte auch daran liegen, dass die Realeinkommen im Oktober schon im elften Monat hintereinander gesunken sind. Insgesamt erwartet die Regierung für 2015 einen Rückgang der Realeinkommen von 9 Prozent (Nichtregierungsökonomen kommen mitunter auf das Doppelte). Der einzige Lichtblick ist eine relative Stabilisierung seit Mai dieses Jahres (wobei „Lichtblick“ wohl eine zu optimistische Wortwahl ist). Allerdings ist das eine Stabilität auf niedrigem Niveau. Positive Aussichten gibt es keine.
So weit, so schlecht also. Nun haben viele (darunter auch ich) den Erfolg und die Popularität Putins lange Zeit mit einem (ungeschriebenen) Gesellschaftsvertrag erklärt: Putin garantiert Stabilität und wachsenden Wohlstand für alle (wenn auch der Wohlstand für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedlich schnell stieg, so stieg er doch bis vor kurzem wirklich für alle), hat dafür aber politisch freie Hand. Dieser Logik folgend schlossen fast alle Zukunftsszenarien lange Zeit aus, dem Regime könne Gefahr durch direkt politische Themen wie Wahlen oder Menschenrechtsverletzungen drohen. Wenn (wenn!) es Unruhe geben werde, so dachten und schrieben wir, dann am ehesten aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen.
Nun sind wir im Jahr sieben der Wirtschaftskrise und der einzige, zugegebenermaßen (zu) kleine Aufstand war der des Protestwinters 2011/2012 aufgrund der Wahlfälschungen und Putins Rückkehr ins Präsidentenamt. Nennenswerte soziale Proteste sind ausgeblieben und, so sehen es heute erneut die allermeisten Beobachter, werden auf absehbare Zeit ausbleiben. Das bedarf einer Erklärung.
Ein wichtiger Grund für die Ruhe dürfte in der (sowjetisch antrainierten) Anpassungsfähigkeit eines großen Teils der Bevölkerung an den wilden russischen Kapitalismus liegen und an der Anpassungsfähigkeit dieses Kapitalismus selbst. Wie schon in den 1990er Jahren sind hier Mechanismen wirksam, die zu einem weitgehenden, wenn auch stillschweigenden Einverständnis zwischen (arbeitender) Bevölkerung, Staat und Wirtschaft geführt haben. Trotz der hypertrophierten politischen Staatsgläubigkeit (vielleicht sogar gerade ihretwegen) erwarten die Menschen in Russland ohnehin kaum, dass der Staat ihnen beim alltäglichen Überleben hilft. Umso geringer ist dann in der Krise (und in gewisser Weise ist fast immer Krise, nur eben manchmal noch krisenhafter als üblich) die Enttäuschung, wenn man sich mal wieder selbst retten muss.
Diese Anpassungsleistung hat sich vor allem in vier Strängen vollzogen (ich stütze mich hier auf Angaben von Natalja Subarewitsch, Leiterin des Unabhängigen Instituts für Sozialpolitik). Der wichtigste ist die Reduzierung der Gehälter bei oft gleicher Arbeitsleistung. Das wurde bereits in den 1990er Jahren flächendeckend praktiziert. Für viele Menschen ist es wichtiger, ihre Arbeitsstelle nicht zu verlieren als Gehaltseinbußen hinzunehmen. Das liegt oft an der geringen Mobilität, außerhalb der Metropolen auch an meist fehlenden Alternativen, aber auch an sowjetischen Vorstellungen, ohne Job auch aus der Gesellschaft zu fallen. Bis zu 10 Prozent der Arbeitnehmer sind zudem inzwischen in eine Art unbezahlten Urlaub oder eine „Kurzarbeit“ ohne Ausgleichzahlungen geschickt worden. Auch der Regierung passt diese Praxis, da die Arbeitslosenzahlen dadurch klein gehalten werden, weil die Menschen formal weiter als „beschäftigt“ gelten.
Der zweite Grund ist die demographische Entwicklung. Aufgrund des Bevölkerungsverlusts verringert sich die Zahl der Menschen im Erwerbsalter jedes Jahr um 600.000 bis 800.000. Ins Erwerbsalter kommen seit einigen Jahren die äußerst geburtenschwachen Jahrgänge der 1990er, während die geburtenstarken Jahrgänge aus den 1950er und den 1960er Jahren in Rente gehen. Das entlastet den Arbeitsmarkt erheblich.
Der dritte Grund sind die Arbeitsmigranten. Offiziell arbeiten in Russland zwei Millionen Ausländer. Nach inoffiziellen Schätzungen sind es aber zwischen vier und acht Millionen. Viele dieser Menschen kommen ohnehin nur zeitweise ins Land (vor allem aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, also ohne ein Visum zu benötigen). Sie sind meist sehr flexibel und gehen zurück, wenn es keine Arbeit mehr gibt oder die Bezahlung zu gering ist.
Der vierte Grund ist ein weiteres Wachsen des ohnehin schon großen informellen Sektors der russischen Wirtschaft. Anfang der 2010er Jahre waren hier nach Schätzungen zwischen 17 und 18 Millionen Menschen beschäftigt, inzwischen sollen es zwischen 20 und 21 Millionen sein.
Diese Mechanismen sind die Basis der bisher weitgehenden Ruhe. Auf diese Basis aber hat der Kreml seit Jahren methodisch ein neues Narrativ gesetzt, nämlich die Behauptung, Russland sei eine belagerte und von Feinden umgebenen Festung. Die Annexion der Krim wird in großen Teilen der Bevölkerung zudem als Beweis dafür angesehen, dass Putin das Land „von den Knien“ wieder aufgerichtet habe. Hinzu kommt die Legende vom einsamen Widerstand Russlands gegen die Weltherrschaft der USA. Es ist ein wenig wie bei Asterix. Alle Welt steht unter der Imperium-Americanum-Knute, nur ein, nun ja, in diesem Fall nicht ganz kleines Land wehrt sich heldenhaft gegen diese Versklavung. Die (behaupteten!) Erfolge der russischen Rüstungsindustrie (ich erinnere an die große Militärparade auf dem Roten Platz zum Tag des Sieges am 9. Mai), das Atomraketenpotential und die neuerdings auch wieder „ruhmreiche“ Armee spielen die Rolle des Zaubertranks. Mittels der Krimannexion, der angeblichen „Rettung“ der russischsprachigen „Landsleute“ in der Ukraine vor den dortigen „Faschisten“, aber auch, ganz neu, des „Antiterrorkampfs“ gegen den IS in Syrien (den die Amerikaner, so tönt es immer wieder aus den russischen Fernsehern, nicht hinbekommen) wurde in gewisser Weise ein neuer „Gesellschaftsvertrag“ geschlossen: Wenn es mit dem Wohlstand schon nicht klappt, dann wollen wir wenigstens wieder stolz sein können auf unser Land. Putin garantiert in den Augen vieler Menschen diesen Stolz.
Dieser Stolz, wieder wer zu sein in der Welt, geachtet, ja vielleicht sogar gefürchtet zu werden, überstrahlt bisher alle wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Umfragen zufolge ist ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung auch bereit, für ihn, den wiedergewonnenen Stolz, „den Gürtel enger zu schnallen“. Die große Frage wird sein, um wie viele Löcher?