Tschetschenien nun fast unabhängig

Nun  hat es der Kreml also getan, trotz der kurzzeitigen Irritationen durch den Mord an Sulim Jamadajew in Dubai vor gut zwei Wochen (siehe Blogpost Tschetschenische Schlachthofsruhe vom 11. April). Dmitrij Medwedjew hat den Ausnahmezustand in Tschetschenien aufgehoben, rund 20.000 russische Soldaten werden in den kommenden Wochen die nordkaukasische Republik verlassen. Es bleiben noch genug da, trotzdem ist die Entscheidung ein zweispältiges Zeichen.

Einerseits will der Kreml damit natürlich demonstrieren, dass der Krieg nun wirklich vorbei ist,Tschetschenien also ein Teil Russlands, wie andere Regionen auch. Das ist auch nicht ganz falsch. Krieg im Sinne von bewaffneten Auseinandersetzungen militärischer Verbände gibt es in Tschetschenien sseit vier, fünf Jahren nicht mehr. Der Kadyrowsche Terror, erst vom Vater und nach dessen Ermordung im Mai 2004 noch effektiver vom Sohn, hat den Krieg zugedeckt. Der Mord an Sulim Jamadajew hat nur noch einmal unterstrichen, dass es in Tschetschenien nur die Wahl zwischen Gefolgschaft für Ramsan Kadyrow oder den Tod gibt. Das hört sich pathetisch an, ist aber trotzdem nicht übertrieben. Alle Berichte, Untersuchungen, Monitorings von Menschenrechtsgruppen bestätigen das.

Das zweite Zeichen würde der Kreml sicher lieber nicht gesetzt haben. Es bedeutet, dass Tschetschenien heute unabhängiger ist, als es jemals seit dem Großen Kaukasischen Krieg in der Mitte des 19. Jahrhunderts war. Diese Unabhängigkeit hat zwei Aspekte. Der eine ist eine durchgreifende Tschetschenisierung der Republik. Es gibt kaum noch Nicht-Tschetschenen, die dort leben. Der Alltag wird Schritt für Schritt immer weiter islamisiert. Junge Frauen, die sich nicht so benehmen, wie sich das die selbsternannten männlich-muslimischen Tugendwächter vorstellen, werden terrorisiert und immer öfter ermordet. Tschetschenien wird so dem übrigen Russland immer unähnlicher. Im übrigen Russland sind Tschetschenen kaum gelitten, gelten als verdächtig, als kriminell oder gleich als Terroristen. Aus Tschetschenien ziehen auch die wenigen im Krieg verbliebenen Nicht-Tschetschenen fort.

Der zweite Aspekt ist die Abhängigkeit des Kremls von Kadyrow und seinem Regime. Es ist Kadyrow, der diese Schlachthofsruhe garantiert. Und es ist die Schlachthofsruhe, die die „territoriale Integrität“, die dem Kreml so viel Menschenleben teure sichert. Es ist nicht Kadyrow, der Herrscher in Tschetschenien von des Kremls Gnaden ist. Es ist der Kreml, der sein Schicksal, soweit es den Nordkaukasus betrifft zu großen Teilen in Kadyrows Hände gelegt hat. Kadyrows Loyalität aber muss andauernd und immer wieder teuer erkauft werden. Das geht mit Geld, das in großen Mengen nach Tschetschenien und damit bevorzugt, wenn nicht völlig in Kadyrows Taschen fließt. Und das geht mit politischen Zugeständnissen. Die jetzige Kremlentscheidung ist ein solches Zugeständnis an Kadyrow. Sie macht ihn freier, sie macht ihn mächtiger. Sollte einmal Geld nicht mehr fließen oder Moskau anderweitig Schwäche zeigen wird die tschetschenische Unabhängigkeit schnell wieder auf der Tagesordnung stehen. Dafür wird schon die Generation der tschetschenischen Kriegskinder sorgen, die nicht weiteres kennen, als das Morden zwischen Russen und Tschetschenen und das darauf folgende Morden von Tschetschenen durch andere Tschetschenen.

 


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