Tofalaren und Tofalarien

Wahrscheinlich kennt kaum jemand in Deutschland die Tofalaren. Das ist keine Schande. Selbst die meisten Menschen in Russland tun sich schwer, wenn sie nach ihnen gefragt werden. Dabei sind die Tofalaren (oder Tofа, wie sie sich selbst nennen) ein ganzes Volk, wenn auch ein sehr, sehr kleines. Eine 1988 herausgegeben Enzyklopädie der Völker der Welt verzeichnet 763 Tofalaren. Der Jefron-Brokgaus, ein, nein das 84-bändige russische enzyklopädische Lexikon, herausgegeben von 1878 bis 1906 sprach noch von 1200. Die neusten Zahlen findet man im russischen Wikipedia-Eintrag für 2010: etwa 800 Tofalaren. Wie kann ein so kleines Volk überleben. Wo lebt es überhaupt? Und wovon?

Tofalarien, das Land der Tofalaren, liegt an der Nordseite des Sajan. Auch der Sajan ist in Deutschland weitgehend unbekannt. Dabei ist das ein großes Gebirge, etwa so groß wie die Alpen und auch fast so hoch. Der Sajan trennt Sibirien von der mongolischen Steppe. Hier also, auf der sibirischen, der nördlichen Seite, leben die Tofalaren auf einer Fläche etwa so groß wie Rheinland-Pfalz. Drei Dörfer gibt es in diesem Gebiet, alle in einer Höhe von mehr als 1000 Metern. Der Rest ist leer. Oder besser, er ist menschenleer. Denn Tiere und Natur gibt es zur Genüge.

Tofalarien ist nicht nur leer. Es ist auch schwer zu erreichen. Keine befestigten Straßen führen in das kleine Land in den Bergen. Nur Pisten, die auch nur im Winter befahrbar werden können, wenn die Flussfurten zugefroren sind. Ein paar Hängebrücken gibt es, aber die sind nur zu Fuß zu überqueren. Um im Sommer in eines der drei Dörfer zu gelangen muss man entweder wandern, reiten oder fliegen. Der Ausgangspunkt ist die Kreisstadt Nischneudinsk, eine Haltestelle an der Transsibirischen Eisenbahn, etwa in der Mitte zwischen den sibirischen Metropolen Krasnojarsk und Irkutsk gelegen. Krasnojarsk liegt rund 5.000 Kilometer östlich von Moskau, bis Irkutsk sind es 6.000 Kilometer – Luftweg.

Von Nischneudinsk aus braucht man zu Fuß eine gute Woche bis nach Werchnaja Gutara, das nächstgelegene Dorf, das auf etwa 1.000 Meter Höhe liegt. Es geht aber auch schneller und bequemer. Vom kleinen Flughafen in Nischneudinsk ist es eine knappe Stunde mit dem Hubschrauber oder rund 80 Minuten mit der AN-2, einem noch sowjetischen, im Volksmund Kukurusnik, genannten Doppeldecker, weil er früher oft zur chemischen Behandlung von Maisfeldern benutzt wurde. Es gibt sogar einen regelmäßigen Flugbetrieb. Immer mittwochs fliegt der Einpropellerflieger hoch in die Berge und wieder zurück. Natürlich nur so es das Wetter zulässt, denn Instrumentenflug ist hier unbekannt. In Werchnaja Gutara, das so heißt, weil es am Oberlauf des Flusses Gutara liegt, wartet eine etwa 500 Meter langes Wiese, hier Flugplatz genannt. Normalerweise kann eine AN-2 neben dem Piloten bis zu zwölf Passagiere mitnehmen. Das gilt aber nur für den Flug in die Berge. Zurück ist die Passagierzahl auf sieben begrenzt, sonst käme das kleine Flugzeug nach nur 500 Metern Anlauf nicht über die umliegende Berge.

Doch nun zu den Tofalaren. Dieses kleine Volk lebte bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein als Nomaden. Sie hüteten ihre Rentierherden und gingen auf die Jagd. Gelebt wurde sommers wie winters in Jurten. Ihrer Überlieferung nach stammen sie von rückgewanderten Nomaden aus Nordamerika ab. Hinweise darauf liefern genetische Untersuchungen und ihre Sprache, die mongolische, turksprachige und russische Einflüsse aufweist.

Eine Besonderheit der Tofalaren selbst unter sibirischen Rentierhaltern ist, dass sie auf diesen Tieren auch reiten. Als Grund nennen sie den tiefen, ob verharschten Schnee, in dem Pferde einbrechen und sich ihre Beine verletzen würden, während die viele kleineren und damit leichteren Rentiere mit ihren breiten Hufen über die Schneedecke zu laufen in der Lage sind. Rentierschlitten, wie sie in der Tundra im hohen Norden von anderen Nomadenvölkern in Russland benutzt werden, sind in den Sajan-Bergen nur sehr begrenzt einsetzbar.

Ich hatte vor vielen Jahren die Gelegenheit mit einem Tofalaren und seiner Familie von Werchnaja Gutara aus in die Berge zu wandern. Boris Nikolajewitsch, wie er russifiziert hieß, war Anfang der 1930 Jahre noch in einer Jurte zur Welt gekommen. Er war damals das 13. Kind seiner Eltern. Von seinen Geschwistern lebte bei seiner Geburt aber nur noch der älteste, schon über 20 Jahre alte Bruder. Alle anderen Schwestern und Brüder waren bei einer Impfaktion der Sowjetmacht ums Leben gekommen. Zentral von Moskau war der Befehl ausgegangen, alle Kinder des riesigen Reiches gegen Windpocken zu impfen. Im europäischen Teil der Sowjetunion ging das auch gut, doch viele der autochthonen Völker im Norden und in Sibirien waren mit den Viren nie in Berührung gekommen.

Wir zogen also mit Boris Nikolajewitsch, seiner Frau, seiner Tochter und zwei Enkelkindern in die Berge. Abends schlugen wir eine Jurte auf und zündeten ein Lagerfeuer an. Nach dem Essen begann Boris Nikolajewitsch zu erzählen, wie das Leben war, bevor die Tofalaren zur Sesshaftigkeit gezwungen wurden. Er erzählte vom Schatun, das ist ein Bär, der beim Winterschlaf gestört wurde und dieser Störung wegen besonders übellaunig und also gefährlich ist. Und von der Jagd auf Marale, eine sibirische Hirschart. Dazu schnitzte er eine kleine Pfeife, mit der geübte Jäger das Jammern eines Maraljungen nachahmen konnte, um die Mutter herbeizulocken.

Kurz, Boris Nikolajewitsch entführte uns in eine verschwundene Welt. Heute leben die Tofalaren in festen Häusern, arbeiten als Lehrerinnen, Handwerker oder, immerhin auch noch, Rentierzüchter. Leider ist die Zahl der Alkoholiker groß, ebenso wie die der Mischehen zwischen Tofalaren und Nicht-Tofalaren. Ob diese kleine Volk also überlebt, ist nicht sicher. Andererseits, so versichern es jedenfalls die Bewohner von Werchnaja Gutara, habe es auch früher immer viele Mischehen gegeben. Ein so kleines Volk wie die Tofalaren wäre sonst über kurz oder lang an Inzucht eingegangen. Noch also stehen die Tofalaren in den Enzyklopädien als Volk, wenn auch als das allerkleinste in Russland.

————-

Dieser Text erschien zuerst in meinem Buch „111 Gründe, Russland zu lieben“, erschienen im Berliner Verlag Schwarzkopf&Schwarzkopf.