Mitunter gibt es Situationen, in denen jede Entscheidung falsch zu sein scheint. So sieht es mit der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland aus. Es hätte viele gute Gründe gegeben, sie zu boykottieren. Nur einige: die Annexion der Krim; der anhaltende und von Russland geschürte, wenn nicht gar geführte Krieg in der Ostukraine; die russischen Bombardements in Syrien und die von Russland gedeckten Giftgaseinsätze der syrischen Truppen; die (nach Zählung von Memorial) mehr als 150 politischen Gefangenen in Russland. Das ist nicht passiert. Ein umfassender Boykott hatte von Anfang an keine (politische) Chance. Hätte er etwas bewirkt? Wäre er nicht zumindest der eigenen moralischen Hygiene wegen notwendig gewesen? Hätte ein Boykott nicht auf all die oben aufgeführten Gründe noch einmal und wegen der weltweiten Aufmerksamkeit, die eine Fußball-WM generiert, weit effektiver aufmerksam machen können? Und sollte man nicht nun zumindest einen kleinen, persönlichen Boykott ausrufen?
Der ursprüngliche (und ursächliche Fehler) wurde am 2. Dezember 2010 in Zürich begangen als Russland von der FIFA die Austragung der Fußball-WM 2018 zugesprochen bekam. Seinerzeit war Putin schon ein Herrscher mit stark autoritären Tendenzen, hatte Russland im Sommer 2008 das kleine Nachbarland Georgien überfallen und das Verhältnis zum Westen zeigte (trotz des Reset-Versuchs der US-Regierung unter Obama) erste Risse. Aber nirgendwo regten sich damals Stimmen, die einen Boykott forderten. Das änderte sich erst nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine vor vier Jahren. Doch Boykottforderungen blieben vereinzelt und wurden zu keinem Zeitpunkt von irgendeiner Regierung (außer der ukrainischen) ernsthaft erhoben. Es gab auch keine öffentliche Kampagne, die eine wirkungsmächtige politische Größe erreicht hätte. Das kann man zwar beklagen, aber kaum ignorieren.
Durch die Annexion der Krim, den Krieg in der Ostukraine und das russische Eingreifen im syrischen Bürgerkrieg haben Boykottforderungen aber auch eine andere, größere Bedeutung bekommen. Die dadurch erfolgreich verstärkte innere Mobilisierung eines großen Teils der russischen Bevölkerung gegen angebliche „äußere Feinde“ hat das Putinsche Regime für absehbare Zeit gegen Kritik aus dem Ausland immunisiert, solange sie als gegen das von ihm reklamierte „Erheben Russlands von den Knien“ gerichtet denunziert werden kann. In dieser Situation lässt sich nicht mehr fraglos „richtig“ handeln. Ein Boykott würde die Zustimmung zu Putin eher weiter verstärken (so das noch geht). Den Verzicht auf einen Boykott kann die russische Führung aber ebenfalls als Sieg gegen äußere „Feinde“ und Missgönner hinstellen.
Anders ausgedrückt operiert die russische Staatsführung schon lange nicht mehr auf der Ebene von Sachbezügen, sondern bevorzugt auf der Ebene von politischem Sinn. Ihre Handlungen zielen nicht auf das, was gesagt oder kritisiert wird, sondern darauf, die Reaktionen auf diese Handlungen denunzieren zu können. Hätte der Westen mit Boykott reagiert, hätte Putin, wahrscheinlich mit dem Erfolg hoher Zustimmung im Land, erneut darauf verwiesen, dass es „eigentlich“ nur darum gehe, Russland zu „erniedrigen“. Jetzt, ohne Boykott, kann er die WM zur Selbstdarstellung seines Russlands nach außen und Konsolidierung nach innen nutzen.
Was kann man in dieser Situation noch tun? Gar nicht zu reagieren führte zu dem Eindruck, Putins Russland könne sich alles erlauben und komme damit durch. Wer aber Kritik äußert oder weiter zum Boykott aufruft (und zum Beispiel Politiker und Politikerinnen aus dem Westen auffordert, nicht während der WM nach Russland zu reisen), riskiert erneut als Spielverderber hingestellt zu werden. Auf diese Ebene sollte man sich also am besten gar nicht erst einlassen, sondern besser versuchen, den Spieß umdrehen. Die Aufmerksamkeit, die die WM (fast) überall auf der Welt erzeugt und auf Russland lenkt, sollte ausgenutzt werden, um auf die Annexion der Krim, den Krieg in der Ukraine, die politischen Gefangenen im Land, die systematischen Verletzungen von Menschenrechten und das systematische Beschneiden von fast allen bürgerlichen Freiheitsrechten im Land aufmerksam zu machen. Eine von möglichst vielen westlichen Regierungen (und auch anderen, wenn sie sich anschließen mögen) mitgetragene Kampagne zur Freilassung des seit mehreren Wochen in einem Gefangenenlager am Polarkreis hungerstreikenden ukrainischen Filmemachers Oleg Senzow könnte dazu dienen, möglichst viel Licht auf all das zu werfen. Politiker, Journalistinnen und alle anderen sollten nach Russland kommen und nicht schweigen, sondern freundlich, verbindlich, aber deutlich und klar über die Probleme im Land und die Verbrechen gegenüber der Ukraine sprechen.
Dabei sollte auch hinter die vielen potemkinschen Zäune geschaut werden, die im Land nicht nur anlässlich der WM aber auch wegen ihr aufgebaut worden sind. Viele Leute kommen anlässlich der WM das erste Mal nach Russland. Ihnen, Gästen dieses Landes und besonders seiner Hauptstadt, sollte deutlich gesagt und gezeigt werden, dass sie zwar eine (im umfassenden Sinn) sehr saubere Stadt, ja sehr saubere WM-Städte überhaupt vorfinden werden. Sie werden wenig Dreck auf den Straßen zu sehen bekommen, keine Obdachlosen, nur vereinzelt Bettler und keine unautorisierten Straßenhändler. Entgegen weit verbreiteter Befürchtungen wird es, davon bin ich überzeugt, auch keine Straßenschlachten mit russischen Hooligans geben (wie in Frankreich vor zwei Jahren). Selbst englische Fußballfans können sich sicher fühlen. Das ist für Reisende und Gäste sicher alles sehr schön. Es kommt aber nicht aus einem guten Leben, sondern weil Russland ein sehr autoritär geführter Staat ist. Die WM-Städte sind deshalb so sauber, weil hier sehr viel Geld geflossen ist, das anderswo fehlt (und von dem ein nicht unerheblicher Teil wie üblich auch noch geklaut worden ist). Ein kleiner Ausflug in eine fast beliebige Nicht-WM-Stadt kann das bestätigen. Keine Obdachlosen und keine Bettler gibt es, weil sie von einer brutalen und erbarmungslosen Polizei aus den Städten getrieben worden sind. Und Straßenschlachten mit Hooligans wird es nicht geben, weil die russischen Hooligans sich zwar während der russischen Meisterschaft durchaus untereinander schlagen, ihre wichtigsten Selbstorganisationen aber in anderen Fällen (gegen innere oder äußere „Feinde“ – wer das ist, definiert im Zweifelsfall der Kreml) als verlängerter nationalistischer und rechtsradikaler Arm des russischen Staates fungieren. Das alles sollten diejenigen wissen, die zur WM nach Russland kommen. Sie sollten auch wissen, dass die Geruhsamkeit, die sie zu sehen bekommen, eine Geruhsamkeit der Unfreiheit ist.
Auch hier ist die Weltmeisterschaft eher gut als schlecht für das Land. Viele Menschen werden im WM-Monat mit Ausländern in Kontakt kommen. Das Land, das von seiner Führung in den vergangenen Jahren zunehmend erklärt bekommen hat, man komme alleine am besten zurecht, brauche das Ausland nicht, ja, jenseits der Grenzen sei Feindesland, bekommt ein wenig Anschauungsunterricht, dass es dort so schrecklich doch nicht sein kann. Hier widerspricht die staatliche Propaganda vom gefährlichen Ausland dem Bedürfnis der Staatsführung, sich selbst und das Land als weltoffen und gastfreundlich darzustellen. Man sollte den Effekt dieses Widerspruchs nicht überbewerten, aber es gibt ihn. Auch am Stolz vieler Menschen darauf, dass ihr Land eines der größten Sportereignisse der Welt beherbergt lässt sich ansetzen.
Diese Widersprüchlichkeit führt zu manchmal absurden, manchmal aber auch sehr menschlichen Szenen. Julian Hans, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Moskau berichtet auf Facebook von einem Gespräch auf der Straße: „Das sind interessante Leute, diese Ausländer: Sie sind gegen Russland, und kommen trotzdem hierher.“ Alice Bota, Korrespondentin der Wochenzeitung „Die Zeit“, ist der Meinung, die WM tue den Russen gut, lockere sie auf und postet dazu auf Twitter einen Polizisten in der Metro mit einem mexikanischen Sombrero. Katrin Scheib, freie Journalistin zur WM für ntv und auch die ARD unterwegs, beschreibt ausführlich in ihrem Blog, wie Moskauer Polizisten einem Kollegen helfen, der seinen Pass verloren hat, und Geld für einen bestohlenen ägyptischen Studenten sammeln, damit dieser zurück an seinen Studienort Tambow fahren kann. Christian Esch, Korrespondent des Spiegels, singt gar ein „Lob auf Moskau“, dass sich in den vergangenen Jahren in eine „moderne Stadt“ verwandelt habe. „Ich glaube“, schreibt er, „die Verschönerung der Stadt hat mehrere Gründe – gesellschaftliche, politische, verkehrstechnische. Aber die WM hat sie beschleunigt.“
Das alles sind kleine Dinge, nichts Weltbewegendes und wirkt vielleicht von außen gesehen unerheblich. Doch in diesem Kleinen wird eines der wichtigsten Narrative der Kremlpropaganda unterwandert, dass der Westen Russland und die Russen nicht wolle. Langfristig wird dieser Behauptung ohnehin nur zu begegnen sein, wenn möglichst viele Beziehungen und Kontakte an der Regierung vorbei aufrechterhalten, ja ausgebaut werden. Viele EU-Staaten und auch die EU selbst arbeiten entsprechend schon seit einiger Zeit daran, ihre Dialogprogramme mit den Menschen in Russland, also auch an der Regierung vorbei, zu verbessern und zu verstärken. Auch wenn der staatlichen Propaganda im Land vom feindlichen Westen direkt kaum etwas entgegengesetzt werden kann, können durch solche Kontakte doch kleine Kontrapunkte gesetzt werden. Ein wichtiges Zeichen wären Visaerleichterungen, wie die Menschen in Ukraine und Georgien inzwischen genießen. Leider wird darüber schon ebenso lange wie erfolglos gesprochen.
In dieser Situation wäre ein Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft, soviel moralisch für ihn spricht, aus meiner Sicht politisch verheerend gewesen. Fußball ist zwar nicht die populärste Sportart in Russland. Das ist und bleibt Eishockey. Auch hat die russische Mannschaft wohl kaum Chancen, weit zu kommen. Aber der Stolz, Gastgeber eines so wichtigen Turniers zu sein, ist natürlich trotzdem groß. Es gibt ein fast schon schmerzliches Bedürfnis nach Anerkennung im Land. Selbstverständlich wird sich die russische Staatsführung im Licht der WM sonnen und es den Bürgern als ihren Erfolg verkaufen, dass dieses zweitgrößte Sportereignis der Welt dieses Jahr in Russland stattfindet. Ein Boykott würde aber wohl nur zu einer weiteren und noch festeren Solidarisierung vieler Menschen mit dem Kreml führen und die weit verbreitete Meinung festigen, „die im Westen“ wollten „uns“ nicht. Das Land würde sich noch weiter einigeln, womit niemanden gedient wäre.