Dieses Interview mit der Körber-Stiftung zum Thema „Was heißt es, ‚Ausländischer Agent‘ in Russland zu sein“. Das Originalinterview steht der Website der Körber-Stiftung. Die Körber-Stiftung und die Heinrich Böll Stiftung gehören beide zu den Förderern des Schülergeschichtswettbewerbs von Memorial „Der Mensch in der Geschichte – Russland im XX. Jahrhundert“.
Körber-Stiftung: Bisher wurden rund 145 Nichtregierungsorganisationen in die Liste der »ausländischen Agenten« des russischen Justizministeriums aufgenommen. Um welche Art von Organisationen handelt es sich dabei?
Jens Siegert: Treffen kann das jede russische Nichtregierungsorganisation (NGO). Das russische Justizministerium prüft zum einen, ob eine NGO finanzielle Mittel aus dem Ausland erhält, und zum anderen, ob sie sich »politisch betätigt«. Als »politische Tätigkeit« gilt alles, was »das staatliche Handeln beeinflussen könnte«. Damit ist so ziemlich jede öffentliche Tätigkeit einer NGO bereits »politisch« – und NGOs als zivilgesellschaftliche Organisationen handeln nun einmal per se öffentlich. Nach meiner Beobachtung sind allerdings nicht die Fördermittel aus dem Ausland der zentrale Grund, warum NGOs in die Liste der ausländischen Agenten aufgenommen werden. Es gibt zahlreiche Beispiele von russischen NGOs, die internationale Gelder empfangen, und deren inhaltliche Arbeit und Zielsetzung sich gleichzeitig mit denen der Regierung deckt. Diese NGOs können ungehindert weiterarbeiten.
Von den 145 NGOs, die bisher zu ausländischen Agenten erklärt wurden, sind rund 40 mittlerweile nicht mehr betroffen. Sie wurden entweder als juristische Person aufgelöst oder haben mindestens ein Jahr lang keine Gelder aus dem Ausland mehr angenommen. Danach konnten sie den Antrag stellen, von der Liste genommen zu werden. Sie werden dort zwar immer noch genannt, aber mit dem Zusatz, sie seinen nun keine »Agenten« mehr.
Wie schätzen Sie die Auswirkungen des sogenannten »Agentengesetzes« ein?
Das Gesetz dient dem russischen Staat dazu, nach und nach alle NGOs, die sich ihm nicht widerstandslos unterordnen und sich ihre Unabhängigkeit bewahren wollen, zu drangsalieren, ihnen die Arbeit zu erschweren, ja, sie letztendlich zur Aufgabe zu zwingen, zur Not mit strafrechtlichen Mitteln. Ich gehe davon aus, dass es mit der Zeit alle diese NGOs treffen wird, so wie jetzt die Reihe an Memorial International war und vorher an vielen anderen NGOs. Zu diesen Disziplinierungsanstrengungen gehört auch, dass der russische Staat seit 2007 NGOs finanziell unterstützt. Auch unabhängige NGOs haben in den ersten Jahren Zuwendungen aus dem Förderprogramm des Präsidenten erhalten. Es hieß dann immer, seht her, es gibt »sauberes« Geld im Land, ihr braucht nicht das »dreckige« Geld aus dem Ausland zu nehmen. Doch erstens reicht die Menge der russischen staatlichen Zuwendungen bei weitem nicht an die Förderung aus dem Ausland, vor allem aus der EU und den USA, heran. Und zweitens gibt es viele Bereiche, für die es nicht nur kein Präsidentengeld gibt, sondern auch ein faktisches, wenn freilich nirgendwo rechtlich fixiertes Verbot für andere russische Geldgeber. Das betrifft den großen Bereich Menschenrechte, erhebliche Teile der Beschäftigung mit der totalitären Vergangenheit des Landes, aber auch viele ökologische Fragen, Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, LGBTI und viele andere. Kurz: Dieses Verbot gilt überall da, wo NGO-Arbeit der staatlichen Politik kritisch gegenüber steht. Doch gerade das ist ja das Wesen einer demokratischen Zivilgesellschaft und ihrer Organisationen, staatliches Handeln kritisch zu hinterfragen, Probleme, ja Verbrechen aufzuzeigen und nach Alternativen zu suchen. Das Agentengesetz schränkt die Möglichkeit dazu gleich mehrfach erheblich ein. Es trocknet sie finanziell aus; es schürt Angst und führt zu Selbstzensur; vor allem aber diskreditiert es NGO-Arbeit durch das »Agentenlabel« in den Augen eines großen Teils der Bevölkerung. Das heißt alles zwar nicht, dass NGO-Arbeit und auch die Arbeit von Memorial unmöglich wird. Aber sie wird mühsamer, gefährlicher und man braucht viele Ressourcen zum Selbstschutz, die dann für die eigentliche Arbeit fehlen.
Geschichtsinterpretation ist zurzeit in Russland ein sehr politisches Thema. Wurde Memorial International geprüft, weil man dort unter anderem den russischen Geschichtswettbewerb für Schüler ausrichtet und sich die kritische Aufarbeitung der Geschichte zum Ziel gesetzt hat?
Das vielleicht auch, aber das ist sicher nicht der alleinige Grund. Vor Memorial war bereits die Gulag-Gedenkstätte Perm-36 betroffen. Es ist also nicht so, dass mit Memorial International die erste historisch arbeitende NGO in das Blickfeld der Justiz geriet. Ich denke nicht, dass das russische Justizministerium eine konkrete Liste hat, die man dort abarbeitet. Der Staat hat allerdings mit der Gesetzgebung seit 2006 den Rahmen für zivilgesellschaftliche Arbeit immer enger gezogen und eine juristische Maschinerie in Gang gesetzt, die jetzt mitunter erratisch, mitunter langsam, aber letztlich systematisch nach diesen Regeln arbeitet. Im Falle von Memorial International sind die Beamten einer Anzeige nachgegangen, die eine nationalistische Gruppe erstattet hat, die sich »Nationale Befreiungsbewegung« (NOD) nennt. Diese Gruppe hat Memorial International seit längerem als »Verräter« im Visier. Sie haben zum Beispiel Ende April auch schon die Preisverleihung des Schülergeschichtswettbewerbs in Moskau gestört und Jurymitglieder mit einer grünen Desinfektionstinktur bespritzt.
Was bedeutet die Aufnahme in die Liste der ausländischen Agenten für Memorial International?
Die Kollegen von Memorial International werden gegen die Aufnahme in die Liste zunächst Widerspruch einlegen. Darüber hinaus planen sie, ihre Arbeit fortzusetzen, so lange ihre Arbeit gebraucht wird. So hat es Jelena Schemkowa, die Geschäftsführerin von Memorial International formuliert. Es wäre allerdings zu optimistisch, wenn ich sagen würde, die Aufnahme in die Liste werde keine negativen Folgen haben. In der täglichen Arbeit wird es durchaus Probleme geben, zumindest in dem Moment, wo Memorial International auf die Zusammenarbeit mit Behörden und Beamten angewiesen ist – zum Beispiel mit Archiven und Museen. Auch der russische Geschichtswettbewerb braucht Lehrer und Schulen als Partner. Von ihnen verlangt eine Teilnahme am russischen Geschichtswettbewerb zukünftig noch mehr bürgerschaftlichen Mut als vorher. Denn als Staatsangestellte mit »Agenten« zusammen zu arbeiten ist ein großes Risiko. Zudem dürfte es für Memorial schwieriger werden, Fördermittel zu erhalten, inländische sowieso, aber auch ausländische Förderer müssen nun das Risiko abwägen, mit einem »Agenten« zusammen zu arbeiten. Diese Gelder werden fehlen und anderes Geld zu finden kostet, so es denn gelingt, erfahrungsgemäß viele Zeit und Anstrengung, die dann anderswo fehlen.
Was sollten Ihrer Meinung nach die internationalen Kooperationspartner tun, um zivilgesellschaftliche Organisationen in Russland zu unterstützen?
Auf jeden Fall sollten sie die Zusammenarbeit aufrechterhalten, so lange dies rechtlich möglich und von den zivilgesellschaftlichen Partnern in Russland gewünscht wird. Ich empfehle, öffentlich über die Kooperation zu reden und alle Details transparent zu machen. Ausländische Partner sollten öffentlich den russischen NGO gegenüber ihre Unterstützung demonstrieren und gleichzeitig mit der Zusammenarbeit signalisieren, dass die Partner in Russland nicht allein sind. Dies ist politisch wichtig, aber auch für die Mitarbeiter der Organisationen, die unter Druck stehen, eine wichtige Bestärkung.