Interview mit n-tv über Putins Optionen nach dem MH17-Abschuss und der Verschärfung der Sanktionen

n-tv.de: Die EU hat Sanktionen gegen Russland beschlossen. Für die Regierung von Wladimir Putin steht viel auf dem Spiel. Wer hat in diesen Tagen den größten Einfluss auf den russischen Präsidenten?

Jens Siegert: Der Kreml ist wie eine Blackbox, viel dringt nicht nach draußen. Man kann nur spekulieren. Viele Beobachter gehen davon aus, dass es eine Reihe von Menschen gibt, mit denen Putin sich berät. Zu diesen gehören unter anderem Sergej Iwanow, der Leiter der Russischen Präsidialverwaltung, Nikolaj Patruschew, ehemaliger Geheimdienstchef und heute Leiter des Staatssicherheitsrats, Igor Setschin, Chef des größten staatlichen Ölkonzerns Rosneft und Eisenbahn-Chef Wladimir Jakunin. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass Putin es nicht liebt, sich in größeren Runden zu beraten, sondern eher mit verschiedenen Leuten einzeln. Wir wissen auch nicht genau, ob Putin die Entscheidungen alleine trifft oder ob es so etwas wie einen kleinen Zirkel gibt, der formal Stimmen hat.

n-tv.de: Wird sich Putin von harten Sanktionen beeindrucken lassen?

Jens Siegert: Es sieht eher nicht danach aus. Bisher ist es so gewesen, dass Putin sich, wenn er auf größeren Widerstand gestoßen ist oder etwas nicht so funktioniert hat, zunächst etwas zurückgezogen hat, um dann umso härter zu attackieren. Auch die Annexion der Krim ist ein Schritt, der in dieses Schema passt. Putin hat die Annexion mit einem nationalpatriotischen Diskurs und nicht realpolitisch begründet. Damit hat er hier im Lande schlafende Hunde geweckt. Diese wieder zum Schlafen zu bringen, dürfte sehr schwierig werden.

n-tv.de: Es wird viel darüber gerätselt, was Putin für einen Plan hat. Was treibt ihn aus Ihrer Sicht?

Jens Siegert: Eine weit verbreitete Interpretation, die ich auch teile, ist, dass Putin keinen langfristigen Plan hat. Es gibt Leute aus seinem Umfeld, die sagen, er finde langfristige Pläne schädlich, weil Politik es erfordere, sich immer mit den drängendsten Problemen zu beschäftigen. Putin wird häufig als ein sehr guter und manchmal sogar genialer Taktiker beschrieben. Zwei langfristige Interessen hat er aber sicherlich: Er will Russland wieder zu einer Großmacht machen, die zudem souverän entscheiden kann und in keine Allianzen eingebunden ist, in der sie die Souveränität teilweise opfern muss. Dazu kommt: Womöglich ist er auch der Überzeugung, dass nur er dazu in der Lage ist, das zu erreichen.

n-tv.de: Der britische Außenminister Philip Hammond hat gesagt: „Russland droht zu einem Paria-Staat zu werden, wenn es sich nicht richtig verhält.“ Welche Optionen hat Putin in dieser Situation überhaupt noch?

Jens Siegert: Es gibt zwei: Ohne zuzugeben, dass er einen Fehler gemacht hat, könnte Putin einlenken und die Unterstützung der Freischärler in der Ostukraine einschränken oder sogar einstellen. Für besonders wahrscheinlich halte ich das nicht. Realistischer ist: Er macht so weiter wie bisher oder geht zum Angriff über. Putin könnte sich dazu entschließen, reguläre Einheiten als „Friedenstruppen“ getarnt in die Ukraine zu schicken.

n-tv.de: Wie groß ist der Rückhalt für Putin in dieser Situation in Russland?

Jens Siegert: Der Zuspruch für Putin ist groß, aber er bezieht sich vor allem auf die Annexion der Krim. Diese hat – das klingt nun vielleicht ein wenig pathetisch – die Herzen vieler Russen zum Schwingen gebracht. Unter all den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, die nach dem Zerfall nicht mehr zu Russland gehört haben, ist die Schwarzmeer-Halbinsel wahrscheinlich das gewesen, dass viele Russen am wenigsten als Ausland betrachten. Putin kann auf viel Unterstützung hoffen, weil er sie „heimgeholt“ hat. Aber Umfragen zeigen auch: Mehr als 60 Prozent der Menschen sind nicht der Meinung, dass die Beziehungen zum Westen schlechter werden sollen und es wieder so etwas wie einen Kalten Krieg gibt. Ähnlich viele sind dagegen, wegen der Ukraine oder mit ihr einen Krieg anzufangen.

n-tv.de: Kommen wir nochmal zurück zu den Sanktionen. Seit Beginn des Ukraine-Konflikts haben die 19 reichsten Russen ungerechnet 14,5 Billionen Dollar verloren. Wie wahrscheinlich ist es, dass sich ein oder mehrere Oligarchen gegen Putin stellen?

Jens Siegert: Dann würde es ihm ganz schnell schlecht gehen. Alle erinnern sich an Michail Chodorkowskij. Da hat sich nichts geändert. Aber ich sehe nicht, dass da bald jemand aufmucken könnte. In den vergangenen Wochen haben jedoch immer mehr Leute vor den Folgen der Sanktionen gewarnt. Der Bekannteste ist der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin, den Putin noch unlängst als seinen Freund bezeichnet hat. Ohne Putin selbst zu nennen, hat er in einem langen Interview und in einem Zeitungsartikel aufgezeigt, was mit der russischen Wirtschaft passiert, wenn dieser Kurs fortgesetzt wird. Das war schon eine deutliche Warnung.

n-tv.de: Wie groß ist die Angst vor den Sanktionen in Russland?

Jens Siegert: In der Bevölkerung nicht sehr. Umfragen zufolge fürchten zwei Drittel der Menschen Sanktionen nicht. Entweder, weil sie meinen, dies sei der Preis, den man für die Annektion der Krim und die Unterstützung der „Landsleute“ in der Ostukraine eben zahlen müsse, oder weil sie denken, dass sie als einfache Leute davon nicht betroffen sein werden. Allerdings gilt das nicht für die Wirtschaftselite. Hier ist die Besorgnis sehr groß, was auch der Vorstoß von Kudrin zeigt.

n-tv.de: Kann Putin aus der Sache überhaupt noch rauskommen, ohne sein Gesicht zu verlieren – oder kann diese Krise ihn sogar zu Fall bringen?

Jens Siegert: Viele Beobachter sind der Meinung, dass Putin nur noch die Wahl zwischen schlechten Optionen hat. Egal, wie er sich entscheidet, ob Rückzug oder Attacke – er wird einen hohen Preis bezahlen müssen. Aber kaum jemand ist der Meinung, dass dieser im Machtverlust liegen wird. Es sind auch keinerlei politische Alternativen sichtbar oder Anzeichen eines Aufstands. Zwar gibt es immer mal wieder Berichte über starke politische Differenzen innerhalb der politischen Elite, aber letztlich ist Putin der Garant der Macht dieser Gruppe.

n-tv.de: Einem Artikel der „Newsweek“ zufolge wird Putin von seinen Mitarbeitern „Zar“ genannt. Eine passende Bezeichnung?

Jens Siegert: In gewisser Weise verhält sich Putin so, wie sich über Jahrhunderte die russischen Zaren verhalten haben. Sie haben oft auf eine Herrschaft aus Gewalt und staatlichem Zwang gesetzt. Das endete meist erst, wenn sie gestorben sind und es einen Nachfolger gab, der etwas klüger war. Das Problem bei Putin ist: Anders als bei den Zaren gibt es keine Nachfolgeregel. Putin kann gar nicht zurücktreten, er darf auch nicht sterben, weil dann alles in Scherben liegt. Alles hängt an seiner Person.

Die Fragen stellte Christian Rothenberg