Gestern Vormittag erst habe ich, ganz vorsichtig, hier meinen Eindruck aufgeschrieben, einige Anzeichen in Russland deuteten eine „leichte Entspannung“ im Ukraine-Konflikt an. Am Abend kam dann die schreckliche Nachricht vom Absturz der Passagiermaschine der Malaysia Airlines mit fast 300 Menschen an Bord nahe Donezk. Schnell wurde klar, dass das Flugzeug abgeschossen worden war. Nur von wem? Und was folgt daraus? Was geben uns diese neuen Toten auf? (Wobei die vielen bisherigen Opfer – darunter sicher auch einige Täter – beginnend mit dem Maidan bis in die Städte und Dörfer der Ostukraine nicht vergessen werden dürfen).
Die Reaktion im (staatlich kontrollierten) Mehrheitsrussland (und hier, weil dies ein Russlandblog ist, nicht weil die Ukraine missachtet oder gering geachtet wird, geht es weiter vor allem um Russland) war vorhersagbar. Die Hauptnachrichten des 1. Fernsehkanals (Sendung „Vremya“ um 21 Uhr Moskauer Zeit) arbeiteten systematisch die Version durch, dass es nur die ukrainische Armee gewesen sein konnte, ohne dass allerdings irgendwo direkt behauptet worden wäre, sie sei es tatsächlich gewesen. Zwar hätten auch die Freischärler, so hieß es in einem Beitrag, vielleicht seit einigen Tagen über entsprechend weitreichende Raketen (vom Typ BUK) verfügt, die seien aber nicht einsatzbereit gewesen. Die ukrainische Armee habe, so weiter mit Bezug auf das russischen Verteidigungsministerium, zudem in dem Gebiet des Absturzes/Abschusses seit gestern geübt, wie Verletzungen des Luftraums von russischer Seite abgewehrt werden könnte (am Freitag dann wurde diese Behauptung konkretisiert und verschärft: die Ukrainer hätten das Flugzeug mit ihrem Zielradar erfasst). Dann folgte ein Film über den versehentlichen Abschuss einer russischen Passagiermaschine 2001 durch die ukrainische Armee über der Krim. Der allgemeine Ton war: Es war die ukrainische Armee, vielleicht nicht absichtlich, aber sie war es.
Diese Linie verfolgte später auch Präsident Putin. Von seiner Lateinamerikareise zurück kommend äußerte er sich am Flughafen anfangs nur zu den am Tag zuvor verschärften US-Sanktionen. Zu diesem Zeitpunkt war offenbar noch nicht klar, ob es sich um einen Absturz oder einen Abschuss gehandelt hatte. Putin Kommentierte die neuen Sanktionen ironisch lächelnd. Anfangs hielt ich dieses Lächeln für eines, das Überlegenheit ausdrücken soll, vielleicht auch ein wenig Überheblichkeit zeigte. Es hat aber auch das Lächeln eines Zynikers, eines Spielers, sein können, der in diesem Moment weiß, dass es diesmal richtig schief gegangen ist.
Erst kurz vor Mitternacht übertrug das russische Fernsehen eine Erklärung, die Putin in einem eher schäbigen Versammlungsraum in Anwesenheit von Ministern aus dem Wirtschaftsblock der Regierung und der Zentralbankchefin machte (ich vermute, das war gleich noch am Flughafen, also wohl schon aus dem Flugzeug zusammen gerufen). Putin begann damit, der ukrainischen Regierung allgemein die Verantwortung für „die Katastrophe“ zu geben. Das wäre nicht passiert, gäbe es in der Ukraine „Frieden“ und würde dort nicht gekämpft. Sodann forderte er Aufklärung und sagte zu, Russland werde alles, was es könne, dazu beitragen. Auch für Nicht-Russisch-Sprechende ist dieses Video anschauenswert. Nicht wegen der Worte, sondern weil es, je weiter es geht, Putin umso schwieriger fällt Worte zu finden, und zwar nicht nur „die richtigen Worte“, sondern überhaupt.
Im Übrigen, das nur als kleine Notiz am Rande, sprach Putin durchweg von der „Ukraine“ und „ukrainischem Territorium“, wenn er die ostukrainischen Gebiete meinte, und nicht von den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk oder „Novorossija“ (Neurussland), wie das sonst unter russischen PolitikerInnen und JournalistInnen üblich ist (vielleicht sogar Pflicht ist). Das mag zumindest zum Teil der Absicht geschuldet sein, die ukrainische Regierung für den Abschuss verantwortlich zu machen, zeigt aber wohl auch eine, zumindest leichte Verunsicherung.
Welche anderen Versionen gibt es? Gestern tauchte ziemlich schnell nach Bekanntwerden des Abschusses in den russischen Medien die Version auf, gemeint gewesen sei eigentlich Putins Flugzeug auf dem Weg aus Lateinamerika zurück nach Moskau. Doch das ist so offensichtlicher Unsinn (u.a., weil von Warschau, über das die Präsidentenmaschine flog, der Weg nach Moskau über Minsk geht, keinesfalls aber über die 1000 Kilometer südlich liegende Ostukraine), dass selbst Russia Today das am Freitag ausschloss.
Ukrainische Medien und auch die ukrainische Regierung beschuldigen die Freischärler in der Ostukraine, das malaysische Flugzeug abgeschossen zu haben. Sie präsentieren vor allem zwei Belege: Zum einen ein abgehörtes Telefongespräch zwischen zwei Freischärlerkommandeuren, in dem diese praktisch zugeben aus Versehen ein Passagierflugzeug anstelle eines ukrainischen Militärfliegers abgeschossen zu haben. Zu klären ist, ob dieser Mitschnitt echt ist. Der zweite Beleg sind triumphale Meldungen von Freischärlerkommandeur Strelkow in sozialen Netzwerken, seine Leute hätten ein ukrainisches Militärflugzeug vom Typ AN-26 abgeschossen. Von diesem Flugzeug fehlt am Boden jede Spur und die entsprechenden Einträge z.B. bei Facebook sind gelöscht. Auch hier muss die Validität dieser Meldung erst noch geprüft werden.
Wie dem auch sei, ich stimme Mark Galeotti zu, der in seinem Blog schreibt, es gebe vielerlei Hinweise auf die Täterschaft der Freischärler. Die müssten zwar alle noch verifiziert werden, aber für eine Täterschaft ukrainischer Truppen, der regulären russischen Armee oder, auch diese Version geistert durch die russischen Medien, gar US-amerikanischer Einheiten, spricht überhaupt nichts.
Allerdings teile ich Galeottis (und anderer) Optimismus nicht, dass die russische Führung das Offensichtliche so bald zugeben, die Bewaffnung der Freischärler stoppen und aktiv an einer friedlichen Lösung in der Ostukraine mitarbeiten wird. Vorher werden wir, so meine Prognose und Befürchtung, einen weiteren (oder: weitergeführten), vielleicht noch dreckigeren Propagandakrieg erleben als schon bisher. Die ersten Reaktionen im russischen Netz lassen befürchten, dass Putin auch diesmal im Land damit nicht nur durchkommen wird, sondern die Zustimmung zu seiner Politik, vor allem aber zu seiner Person auf dem fast nicht mehr steigerbar hohen Niveau halten wird. Zumindest kurz- und wahrscheinlich auch mittelfristig.
Die meisten Menschen in Russland werden wohl weiter lieber an jede noch so absurde und phantastische Verschwörungstheorie glauben als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, dass sie in einem Land Leben, dessen Führung systematisch Völkerrecht bricht, Verbrecher unterstützt, wohl auch selbst welche begeht.
Andererseits ist das aber vielleicht gar nicht so verwunderlich, wenn selbst im Ausland (und nicht zuletzt in Deutschland) immer noch Beiträge möglich sind, wie dieser gestern im ZDF von Korrespondent Bernhard Lichte (Ab 6:15, danke an Boris Reitschuster für diesen Hinweis) . Lichte berichtet erst, dass alles auf die Freischärler als Täter hinweise, um dann, ohne danach vom Moderator gefragt worden zu sein zu sagen: „Man muss sich in diesem Punkt vielleicht davon verabschieden, immer sofort mit dem Finger auf Putin zu zeigen (…) Er hat die Kontrolle über die Geister verloren, die er selber gerufen hat (…) Er ist glaubhaft entsetzt. Man muss ihn jetzt ins Boot holen, um aufzuklären (…) Da hilft es gar nicht, mit Fingern auf ihn zu zeigen, mit Quarantäne zu drohen Sanktionen zu drohen. Man muss ihn für eine Friedenslösung ins Boot holen. Jeder Katastrophe wohnt die Chance zu einem Neuanfang inne.“
Entsetzt mag Putin sein (siehe oben), aber bevor er ein „Partner“ bei der Lösung sein kann, muss er deutlich und tätig zeigen, dass er den Konflikt, den es so blutig oder überhaupt blutig ohne russische Einmischung gar nicht gäbe, zu beenden bereit ist. Das hieße schlicht: Grenzen zu, keine neuen Waffen und keine neuen Freiwilligen für die Freischärler aus Russland, Beendigung der menschenverachtenden Propaganda in den russischen Medien. Also ganz einfach. Wenn er will.