Wer denkt, die zwei Jahre Lagerhaft für zwei Mitglieder von Pussy Riot (der dritten, Katja Samuzewitsch, wurde die Frist gestern im Berufungsverfahren zur Bewährung ausgesetzt) seien ein Skandal, ermisst noch lange nicht, in welche Dimensionen sich der herrschende (im wörtlichen Sinn!) Zynismus in Russland aufzuschwingen in der Lage ist. Und seit dem Frühsommer erreicht er fast täglich so neue, ungeahnte Höhen, dass selbst mir altgedientem und vielgewohntem Russländer mitunter der Atem stockt. Neuestes Beispiel ist die Aussage einer „Richterin“ (das Wort kommt mir in diesem Zusammenhang nur in Anführungsstrichen aus der Tatstatur) des gestern urteilenden Moskauer Stadtgerichts: Zwei Jahre für Nadja Tolikonnikowa und Mascha Alechina, das seien schon mildernde Umstände, weil sie kleine Kinder hätten. Ohne die Kinder hätte es für „Tanzen und Singen in der Kirche“ sieben Jahre gegeben.
Dieser Zynismus verdeutlicht noch einmal, um was es sich hier handelt. Nicht um ein Gerichtsverfahren, sondern um eine Machtdemonstration, die Teil des Rollbacks nach den großen Anti-Putin-Demonstrationen des Winters und des Frühjahrs sind. Putin sucht neue Legitimation, nachdem die alte durch eigene Hybris, die Wahlfälschungen und Stagnation auf fast allen Ebene erheblich gelitten hat. Dabei greift er auf eine im Grunde alte, auch früher immer mal wieder durchaus erfolgreich erprobte Mischung zurück: Den Aufbau einer Feindkulisse in der Gestalt eines Russland übelwollenden Auslands (siehe NGO-Agentengesetz und Verschärfung des Spionagegesetzes) und der Idee eines, wie es Kirill Rogow im Journal „Bolschoj Gorod“ ausdrückt, „halbfundamentalistischen Staates, bei dem die Grenze zwischen Kirche und Staat verwischt wird.“ Putin versucht so, sich einen Teil seiner verloren gegangenen Legitimität über den Umweg Kirche wiederzuholen, indem er einen (leider großen) Teil der Gesellschaft gegen die „Gotteslästerer“ aufbringt. Fast 80 Prozent der Befragten gaben Ende September dem Levada-Zentrum an, die Bestrafung von Pussy Riot sei „angemessen“ oder „nicht ausreichend“, nur 14 Prozent fanden sie „übertrieben“. Da die russisch-orthodoxe Kirche nicht einfach nur irgendeine Kirche ist, sondern eben eine russische, lässt sich die Aktion von Pussy Riot und die ihre Unterstützer zudem als „gegen Russland“ gerichtet ausnutzen.
Doch der “Prozess“ hat noch einen weiteren Aspekt, vielleicht sogar wichtigeren, nämlich die Lüge. Es wurde in den vergangenen Tagen viel darüber diskutiert, ob Katja Samuzewitsch ihre beiden Mitangeklagten „verraten“ habe. Warum? Die neue Anwältin von Samuzewitsch argumentierte gestern in der Berufungsverhandlung folgendermaßen. Im Urteil der ersten Instanz, seien alle drei Angeklagten wegen „Singen und Tanzen im Altarbereich“ verurteilt worden. Katja Samuzewitsch hat aber weder gesungen, noch getanzt. Sie wurde noch bevor sie dazu kam, von Wachleuten festgenommen, als sie ihre Gitarre auspackte. Darauf verwies nun die neue Anwältin im Berufungsverfahren. Sie sei also, im Gegensatz zu ihren Mitangeklagten, für etwas verurteilt worden, was sie nicht getan habe. Das Gericht folgte dieser Argumentation zur Überraschung fast aller und setzte die Strafe zur Bewährung aus (hier stellt sich übrigens die Frage, warum Samuzewitsch nicht freigesprochen wurde. Heute wurde diese Frage vom Gericht beantwortet: Weil sie vor hatte zu tanzen und zu singen. Zwei Jahre auf Bewährung gibt es also fürs Vorhaben).
Warum hat Samuzewitsch aber nicht schon im ersten Prozess darauf hingewiesen? Der Grund ist einfach: Alle drei Angeklagten haben sich für unschuldig im Sinne der Anklage erklärt. Wer unschuldig ist, kann aber kaum mildernde Umstände fordern für etwas, dass er oder sie nicht getan hat. Hier zeigt sich das obszöne Wesen eines politischen, das heißt auf falschen Anklagen basierenden Prozesses. Die Angeklagten haben die Wahl. Sie können bei der Wahrheit bleiben, die ihnen zu Last gelegten Vergehen also bestreiten, eben weil sie sie nicht begangen haben. Dann drohen ihnen hohe Strafen. Oder sie akzeptieren die zynisch verdrehte Logik der Anklage, bestehen nicht auf der Wahrheit, sondern lügen über sich selbst. Dann gibt es möglicherweise Rabatt (frei wird man dadurch aber nie). Katja Samuzewitsch ist, trotz des gestern eingeschlagenen Wegs der Lüge, so scheint mir, ausreichend lange bei der Wahrheit geblieben, um glaubhaft zu bleiben. Es sieht so aus, als ob Nadja Tolokonnikowa und Mascha Alechina das auch so sehen.
Hier kommen wir zum NGO-Agentengesetz. Es folgt der gleichen Logik. NGOs, die über sich lügen, sie seien „Agenten“ (und das ist eine Lüge!), sollen Rabatt bekommen. Sie dürfen weiter machen. Aber eben um den Preis, sich vor dem Staat, der Gesellschaft und nicht zuletzt vor sich selbst erniedrigen zu müssen. Wer nicht bereit ist zu lügen und sich zu erniedrigen, wird geschlossen. So wird in Russland geherrscht.