Die Zeit der Massenproteste in Russland scheint vorerst vorbei. Putin ist als Präsident (wie sauber auch immer) gewählt. Am 7. Mai wird er das Amt antreten. Den Protestierenden (ja eine sehr bunte Mischung von nicht unbedingt guten – politischen – FreundInnen) fehlt nach den Wahlen eine neue Perspektive. Einige werden weiter protestieren. Andere sich der Parteigründung widmen. Wieder andere (zumindest vorerst) zu Hause bleiben, vielleicht im Internet. Alles zurück auf Null und freie Bahn für Putin? Wohl eher nicht.
Ein paar Geister sind schon aus der Flasche. Einer dieser Geister, einer der ersten, sind die inzwischen sehr wachen öffentlichen Reaktionen auf besonders dreistes Privilegienschneiden von Politkern und Beamten auf allen Ebenen. Das jüngste Beispiel vom Osterwochenende ist da nur besonders dreist. Da hat der gerade neu ernannte Gouverneur von Wolgograd, einer wirtschaftlich eher depressiven Gegend, ohne sonderliche Vorlieben für Putin oder die Kremlpartei(en), gemeinsam mit der halben Bezirksregierung und dem halben Bezirksparlament über Ostern einen Ausflug in die Toskana gemacht. Mit dem Charterflugzeug ins Luxushotel, das vor einer Woche erst die ebenfalls als eher extravagant bekannte Präsidentengattin Swetlana Mewedjewa beherbergt hatte.
Doch die russische Bloggerszene ist inzwischen aufmerksam und fast überall. Die Wolgograder Politiker- und Beamtentruppe hatte im Hotel samt Gattinnen (von Gatten wird nichts berichtet) kaum eingecheckt als das russischsprachige Internet schon über die angebliche Dienstreise informiert war. Gespräche mit italienischen Partnern über Zusammenarbeit in Landwirtschaftsdingen seien das Ziel, erklärten die Sprecher daheim. Das Lästern im Netz schwoll zum Empörungssturm an, als bekannt wurde, dass der Bezirksparlamentsvorsitzende an Karfreitag, der Gouverneur selbst am Ostersonntag Geburtstag hatten und entsprechende Feiern auf dem Programm standen. In Wolgograd wurde aus der Dienstreise, bezahlt aus dem Bezirksbudget, schnell ein privater Ausflug, den die TeilnehmerInnen alle aus eigener Tasche bezahlt hätten (Kostenpunkt für die Ostertour: knapp 2.000 Euro pro Person). Die Frage, warum (und mit wem) beim plötzlich angeblich so privaten Charakter der Reise dann in den Ostertagen angeblich noch ein Abkommen über den Aufbau einer toskanisch-wolgogradischen Schweinezucht geschlossen wurde, war am Ostermontag eines der liebsten Spottthemen im Internet. Der Großteil der Wolgograder ist inzwischen wieder zu Hause. Nur der Gouverneur selbst ist in Dienstdingen nach Baden-Baden weiter gereist. Doch die Sache ist nicht ausgestanden. Im Kreml ist man, so wird berichtet, not amused.
Vielleicht noch ungeschickter als die Provinzialen von der unteren Wolga war vorige Woche eine andere sehr honorige, quasi-staatliche Organisation, die Russisch-orthodoxe Kirche. Sie fühlt sich seit einiger Zeit in einem Kulturkampf gegen einen „aggressiven Liberalismus“, der allerlei moralischem Niedergang Vorschub leiste. In einer am Sonntag (in Russland der Palmsonntag) in allen Kirchen verlesenen Botschaft an die Gläubigen spricht Patriarch Kirill (der die Botschaft im staatlichen Fernsehen landesweit auch Nichtkirchengängern zu Gehör bringen durfte) von „solchen antichristlichen Erscheinungen wie die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Vereinigungen, der Freiheit alle Wünsche auszudrücken, hemmungsloses Konsumdenken, Propaganda, dass alles erlaubt ist und Unzucht“.
Dieser Rundumschlag kommt zeitlich nicht von ungefähr. In der Vorwoche war der Patriarch selbst in Bedrängnis geraten. Der Anlass war eine eigentlich eher kleiner. Blogger entdeckten auf einem Foto auf der Website des Patriarchats am Arm des Patriarchen eine nicht ganz billige Schweizer Uhr der Marke Breguet, Listenpreis 28.000 Dollar. Da hatte Kirill gerade wortmächtig gegen allumfassende weltliche Maßlosigkeit gewütet. Die Schadenfreude war im Internet groß, den Moralapostel ein wenig beim sündigen erwischt zu haben. Ein Skandal wurde daraus aber erst (Wulff lässt grüßen) durch die ungeschickten Reaktionen der Kirche. Zuerst hieß es, diese sehr sichtbare Uhr gebe es gar nicht. Dann wurde zwar ihre kaum zu leugnende Existenz zugegeben, aber behauptet, die Uhr gehöre nicht dem Patriarchen. Am Tag darauf dann war die Uhr tatsächlich verschwunden. Jedenfalls fehlte sie auf dem Foto auf der Website des Patriarchats. Allerdings hatten die Photoshop-Künstler der Kirche die Spiegelung der Uhr auf dem blankpolierten Eichentisch vergessen, an dem der Patriarch saß. Blanker Hohn durchrollte das Netz. Kleinlaut musste ein Kirchensprecher zugeben, übereifrige Mitarbeiter hätten da retuschierte Bild „fälschlicherweise“ auf die Website gestellt.
Was ist an diesen beiden Geschichten neu? Drei Dinge: die Geschwindigkeit, mit der sie zum Skandal wurden, der hohe Rechtfertigungsdruck, unter dem vermeintlich oder tatsächlich Mächtige geraten, und dass sie sich auch wirklich öffentlich rechtfertigen. Niemand kann das Internet mehr ignorieren.