Warum eigentlich Wahlen in Russland, wenn ohnehin alles feststeht?

Weder „frei“ noch „fair“

Die Dumawahlen im Dezember 2007 hat die OSZE als „weder fair
noch frei“ bewertet. Auf eine vernünftige, ausreichend lange, ausreichend große
und ausreichend mandatierte Wahlbeobachtungskommission hatte sie sich zuvor mit
der russischen Regierung nicht einigen können. Seither sind die Dinge nicht
besser geworden. Auch bei diesen Wahlen wird es wohl, wenn überhaupt, nur eine  kleine und zudem kurzfristige OSZE-Wahlbeobachtungsmission
geben. Ein paar kosmetischen, man traut sich das Wort kaum zu schreiben,
„Verbesserungen“ in der russischen Wahl- und Parteiengesetzgebung seit 2007
steht gegenüber, dass die Parteien, ihre Registrierung, die Zulassung zur Wahl,
das Fernsehen als wichtigstes Massenmedium, die Wahlen selbst und die
Auszählung der Stimmen weiterhin fast vollständig durch die Exekutive
kontrolliert werden. Dies alles beschreiben, von Alexander Kynjew und Arkady
Ljubarew von der unabhängigen russischen Wahlbeobachtungsorganisation GOLOS in
ihren Artikeln ausführlich beschrieben zeigt schon jetzt, dass auch die
diesjährigen Dumawahlen nicht fair noch frei sein werden.

Wenn die Wahlen aber so umfassend durch die Macht Habenden
manipuliert und kontrolliert werden, der Ausgang grosso modo feststeht, warum dann noch der Aufwand? Warum werden
aller Voraussicht nach, zwischen der Hälfte und zwei Dritteln der Wahlberechtigten
daran beteiligen und abstimmen gehen? Was drücken sie damit aus? Warum gehen
die, grob gesagt, andere Hälfte oder das restliche Drittel nicht zur Wahl. Und
zu guter Letzt: Was bedeutet der vorhersehbare Ausgang einer erneuten Mehrheit
von „Einiges Russland“, der Partei von Wladimir Putin und Dmitrij Medwedjew?

Die Antwort auf die erste Frage ist banal und fundamental
zugleich. Das gegenwärtige politische System in Russland stützt seine
autoritäre Herrschaft auf demokratische Legitimität und Legalität. Es sucht
dafür demonstrative und mehrheitliche Zustimmung der russischen Bevölkerung und
die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft. Zudem zeichnet sich die
Putinsche Herrschaft durch das Bestreben aus, die Transaktionskosten zu
Erhaltung dieser Herrschaft zu minimieren. Im großen Gegensatz zur Sowjetunion
fehlt ihr eine genuine, sie legitimierende Ideologie, wenn man von der formalen
Konstitution als demokratischer Rechtsstaat absieht. Um aber eine demokratische
Legitimierung zumindest vorspiegeln zu können, setzt es auf so wenig offene
Gewalt wie nötig, so wenig offene Manipulation wie nötig, so wenig offene
Fälschung wie nötig.

Damit kommen wir zur Frage, warum so viele Menschen gute
Miene dazu machen? Nach Meinungsumfragen ist eine große Mehrheit der
Bevölkerung davon überzeugt, dass Wahlen auf allen Ebenen manipuliert und
gefälscht werden. Ich möchte mich einer Antwort auf drei Ebenen nähern:
mehrheitliches Demokratieverständnis, allgemeiner Zynismus, Verhältnis Staat –
Bürger. 

Zuerst zum vorherrschenden Demokratieverständnis. Umfragen
zeigen, dass eine Mehrheit der Menschen in Russland der Meinung sind, dass das
Land heute demokratischer ist als in den 1990er Jahren. Nun war Jelzins
Russland kein demokratisches Paradies, die Wahlen aber waren, schon weil es
weit mehr Konkurrenz gab und sehr viel einfacher zu kandidieren, zweifellos
freier (wenn auch, z.B. die Präsidentenwahlen 1996 nicht unbedingt fairer). Das
ist zumindest aus vorherrschender westlicher Sicht überraschend und bedarf der
Erklärung. Wie Kirill Rogow herausgearbeitet hat, sind die Leute nicht einfach
schlecht informiert oder durch Propaganda manipuliert. Ihr Urteil ist durchaus
rational begründet. Sie haben, um es kurz (und natürlich auch ein wenig
verkürzt) zu sagen, schlicht andere Prioritäten. Demokratie bedeutet für eine
Mehrheit der Menschen in Russland vor allem soziale Sicherheit und Stabilität.
Wer das als Politiker gewährleisten kann, gilt als legitim und demokratisch.
Putin hat das, mit welchen Mitteln und welcher Fortune auch immer, geschafft,
zumindest bis 2008.

In seiner Amtszeit ist zudem das Wertesystem der russischen
Gesellschaft weiter erodiert, wie Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums,
ausführt. Das ist beileibe kein neuer, aber ein Prozess, der in den vergangenen
zehn Jahren an Geschwindigkeit zugenommen hat. Das wichtigste Symptom dieses
Werteverfalls ist ein sich rapide ausbreitender und inzwischen fast
allgegenwärtiger Zynismus. Dieser Zynismus eint im Übrigen Volk und Führer. Der
Homo Sovieticus ist, wenn man so
will, unter Putin noch sowjetischer geworden. Insbesondere Wladimir Putin
versteht es ihn kunstvoll zu zelebrieren. Hauptmerkmal ist die weitgehende
Leugnung allein schon der Möglichkeit von moral- oder wertegeleitetem
öffentlichen und politischen Handeln. Demokratie und Wahlen werden entsprechend
vorwiegend als Herrschaftsinstrumente wahrgenommen. Die Vorstellung, dass es
faire Wahlen grundsätzlich nicht gibt, auch nicht außerhalb Russlands, ist weit
verbreitet. Die politische Führung nutzt dies geschickt zur Desavouierung
internationaler Wahlbeobachtung und Kritik am Wahlprozess im Inland.
Wahlbeobachter der OSZE (deren Mitglied Russland ja ist), werden als „deren“
Wahlbeobachter denunziert, während die seit einigen Jahren organisierte
Wahlbeobachtung durch Vertreter von GUS-Staaten als „unsere“ gelten. Dabei ist
es nicht wichtig, dass die meisten Menschen in Russland auch den
GUS-Wahlbeobachtern nicht glauben. Vielmehr wird so auch die Glaubwürdigkeit
der OSZE-Wahlbeobachtungsmissionen untergraben.

Hinzu kommt das seit Jahrhunderten gewachsene und im
Vergleich mit westlichen modernen Gesellschaften kaum veränderte Verhältnis
zwischen Macht und Mensch (diese Alliteration scheint mir hier angemessener als
Staat und Bürger). Die Neigung, den Staat, als Subjekt eigenen Rechts, ja in
der Regel sogar jenseits des Rechts stehend wahrzunehmen, ist sehr tief im
russischen Alltagsbewusstsein verankert. So wird, wenn vom Staat, von
staatlichem Handeln die Rede ist, in der Regel das Wort „Wlast“ (ins Deutsche
mit „Macht“ nur unzureichend übersetzbar – „Obrigkeit“ kommt der russischen
Bedeutung wohl am nächsten) in der Weise benutzt, dass es ein handelndes
Subjekt beschreibt, dem die Menschen oder das Volk gegenüber stehen. Diese
Machtzentriertheit drückt sich sogar in der aktuellen, ansonsten durchaus
liberalen russischen Verfassung aus, die den Präsidenten (wie übrigens früher
den Zaren nach der Verfassung von 1906 und die kommunistische Partei nach der
sowjetischen Verfassung) ausdrücklich aus der Gewaltenteilung heraus hebt und
als „Garanten der Verfassung“ über Legislative, Exekutive und Judikative
stellt. 

Meinungsumfragen zeigen gleichzeitig, dass eine große
Mehrheit der Menschen kein oder nur wenig Vertrauen in die politische Führung
hat. Das gilt insbesondere für die Parlamente, aber auch, trotz immer noch
vergleichsweise hoher, wenn auch seit einiger Zeit kontinuierlich abnehmender
Ratings, für Präsident und Premierminister. Und selbst dieses Vertrauen, vor
allem in Putin und nur abgeleitet daraus in Medwedjew (umso mehr nach der
Rotationsankündigung von Ende September), ist, wie Untersuchungen von Boris
Dubin vom Moskauer Lewada-Zentrums
zeigen, kein wirkliches Vertrauen, keine
Zustimmung in eine bestimmte Politik oder Vertrauen darauf, dass eine bestimmte
Politik auch umgesetzt wird. Es ist vielmehr eher ein „Bevollmächtigen“ derer
die ohnehin herrschen, also ein Gutheißen der Art zu herrschen, die man von
seinen Herrschenden ohnehin gewohnt ist. Dieses Verhalten ist insofern durchaus
rational, da es von der gegebenen Vergeblichkeit ausgeht, sich hier
einzumischen. Warum also Kraft in etwas zu stecken, dass von vornherein zum
Scheitern verurteilt ist?  

So gesehen sind Wahlen eine Form der Bestätigung des ungeschriebenen
„Gesellschaftsvertrags“, durch den die Putinsche Herrschaft häufig beschrieben
wird (und früher schon die späte, breschnjewsche sowjetische Herrschaft
beschrieben wurde): Wir, das Volk, mischen uns nicht in die Politik ein. Ihr,
die Herrschenden, die „Macht“, sorgt im Gegenzug dafür dass es uns materiell
nicht am Überlebenswichtigen fehlt und mischt Euch nicht (sowjetisch: nicht
allzu sehr) in unser Privatleben ein. Man könnte Wahlen in Russland heute also
auch als Loyalitätsbekenntnis der Wähler und Wählerinnen betrachten, mit dem
sie dann auch die Verantwortung für die Folgen der Politik abgeben. Die
Macht-Habenden bekräftigen ihrerseits durch das Abhalten der Wahlen die
fortgesetzte Gültigkeit des Vertrags. Der Staat unterstützt diese Haltung
seinerseits aktiv über soziale und politische Kontrollmechanismen und die
weitgehende Kontrolle der Medien.   

Bisher war vom Verhältnis einer großen Mehrheit der
wahlberechtigten russischen Bevölkerung zu Wahlen die Rede. Das Lewada-Zentrum
schätzt sie aufgrund langjähriger Befragungen auf stabile 70 bis 80 Prozent.
Tendenziell leben diese Menschen eher auf dem Dorf oder in Kleinstädten, sie
haben eher eine schlechte formale Bildung und sie sind eher wenig mobil. Auf
diese Mehrheit stützt sich die Putinsche Herrschaft. Doch was machen die
restlichen 20 bis 30 Prozent? Sie suchen vor allem nach Möglichkeiten, die
Wahlen zu politischen Protest zu nutzen. Die Strategien dabei sind vielfältig,
sie reichen von Boykottaufrufen (z.B. Garri Kasparow), über die Idee, möglichst
viele ungültige Stimmzettel abzugeben (Vertreter der nicht zugelassenen „Partei
der Volksfreiheit“), bis zur Aufforderung, einer beliebigen Partei außer
Einiges Russland die Stimme zu geben (so der bekannteste russische Blogger
Alexej Nawalnyj).

All dem liegen zwei Überlegungen zugrunde. Zum einen soll
auch öffentlich gezeigt werden, wie groß die Zahl der „nicht Einverstandenen“
ist, um so die Legitimität der alleinigen Herrschaft Putins wenigstens ein
wenig anzukratzen. Für wen das das Hauptziel ist, setzt mit Boykott auf eine
möglichst geringe Wahlbeteiligung oder mit der Stimme für einen andere Partei
als Einiges Russland auf möglichst viele Abgeordnete in der Staatsduma, die
einer zumindest nominell oppositionellen Partei angehören. Andere haben das
Ziel, die erwarteten Fälschungen noch am Wahltag möglichst schwierig zu machen,
wenn man sie schon nicht ganz verhindern kann. Dazu soll der Gang in die
Wahllokale und die Abgabe eines ungültigen Stimmzettels dienen. Aber auch so
soll der Protest möglichst in zahlen dokumentiert werden. Ob das alles etwas
nützt, weiß aber niemand so recht, denn die entscheidenden Manipulationen haben
mit der Parteienzulassung und der Medienkampagne bis zum Wahltag bereits
stattgefunden. Deshalb geht es bei alledem wohl vor allem darum, sich gegen die
Demütigung zur Wehr zu setzen, das Wahlergebnis einfach fertig vorgesetzt zu
bekommen. Im Unterschied zu den Wahlen vor vier Jahren hat die Finanz- und
Wirtschaftskrise zu wachsender Unzufriedenheit im Land geführt. Auch wenn sie
bei diesen Wahlen noch keine politischen Folgen zeigen dürfte, könnte sich die
zunehmende Arroganz der Macht-Habenden, die sich in der selbstherrlichen
Ankündigung des Rollentausches von Putin und Medwedjew besonders deutlich
zeigt, als Hybris erweisen. Die Wut ist gewachsen, auch wenn sie bisher kalt
bleibt.
 

Lesetipps:

Lew Gudkow: Russlands Systemkrise. Negative
Mobilisierung und kollektiver Zynismus, in: Osteuropa 1/2007, S. 3ff.
 

 


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