Bewährungsverhandlung von Platon Lebedew – Brief von Arsenij Roginskij

Heute wurde in der kleinen nordrussischen Stadt Welsk (das ist ziemlich im Nirgendwo, wenn auch an der Magistrale M-8, die von Moskau nach Archangelsk führt, Durschnittstemperatur im Januar: 11 Grad minus, im Juli: 17 Grad plus) über die Freilassung von Platon Lebedew auf Bewährung verhandelt. Nach Verbüßung von mehr als der Hälfte seiner Strafe (bisher über auch von insgesamt 14 Jahren) hat der ehemalige Kompagnon von Michail Chodorkowskij und Ex-Miteigner der JuKOS-Konzerns das Recht, Bewährung zu beantragen. Das örtliche Gericht in Welsk ist dafür zuständig, weil Lebedew nach der zweiten Verurteilung Ende vorigen Jahres in einer Strafkolonie des Kreises Welsk seine Strafe abbüßt.

Groß sein seine Chancen nach allgemeiner Einschätzung nicht. Das zeigen auch die Charakteristiken, die heute von der zentralen Gefängnisverwaltung dem Gericht vorgestellt wurden. Demnach wurden Lebedew während seiner acht Gefangenenjahre 20 Rügen ausgesprochen. Darunter so schwerwiegende wie der „Verlust eines baumwoll-papierenen Gefängnisanzug“ und „unhöfliche Ansprache von Gefängnispersonal. Außerdem soll der aufsüssige Gefangene im bett geraucht haben und nach dem Schlafsignal noch gesprochen haben. An diesen Vergehen, so die Gefängnisverwaltung zeige sich, dass Lebedew „noch nicht resozialisiert“ sei, also nicht freilassungsfähig. Die Gerichtsfarce, die nicht einmal sonderlich unterhaltsame, weil so unprofessionelle Schau „wir spielen Gericht“  geht also weiter.   

In Kürze wird es eine ähnliche Verhandlung auch mit michail Chodorkowskij geben. 

Hier soll heute ein Leserbrief von Arsenij Roginskij dokumentiert werden, den der Vorsitzende von Memorial International vorige Woche an den Chefredakteur des Internetportals „Welsk-Info“ geschickt hat. „Welsk-Info“ hatte, für eine kleine regionale Website schon ungewöhnlich genug, eine Unterschriftensammlung für die Freilassung von Platon Lebedew initiiert. Der Grund dürfte in langer Erfahrung mit zu Unrecht Verurteilten zu suchen sein. Schon in den 1930er Jahren und auch noch danach war das Lager bei Welsk ein wichtiger Punkt auf der Karte des stalinschen Gulag, in dem auch der Vater von Arsenij Roginskij viele Jahre verbringen musste. 

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Leserbrief von Arsenij Roginskij an „Welsk-Info“ vom 21.7.2011

An den 

Chefredakteur der Zeitung
„Welsk-Info“

Konstantin Mamedow
 

Sehr geehrter Konstantin
Michajlowitsch,
 

ich habe mehr oder
weniger zufällig erfahren, dass in Ihrem Internetportal die bevorstehende
Gerichtsverhandlung aktiv diskutiert wird, in der über die Entlassung von
Platon Lebedew auf Bewährung entschieden wird. Und ich möchte mich an dieser
Diskussion beteiligen.
 

Erinnern Sie sich, in
Puschkins Erzählung „Die Tochter des Hauptmanns“ wendet sich Mascha Mironowa an
die Zarin, um ihren verhafteten Bräutigam zu retten: „Ich kam um Gnade zu
bitten, nicht um Gerechtigkeit“. Sie sagte das, weil ihr Bräutigam formal, dem
Gesetz nach schuldig war und die Strafe verdient hatte. Puschkin aber (und
seine Heldin) stellen Menschlichkeit und Humanität höher als das formale
Gesetz. Petruscha Grinjew kann nur Gnade befreien, das vergeben seiner Tat
durch die Zarin Katharina. So sieht es in „Die Tochter des Hauptmanns“
aus.  
 

Wir haben es genau mit
dem umgekehrten Fall zu tun. Nicht Gnade erwarten wir für Lebedew, sondern
Gerechtigkeit. Gnade (in der heutigen Sprache heißt das Begnadigung) liegt nicht in der Kompetenz des Gerichts in Welsk.
Vom Gericht erwarten wir eines: Dass das Gericht seiner direkten Bestimmung
nach handele und den Fall streng dem Gesetz nach beurteilt. Und dass es ein
Urteil spreche eben aufgrund dieses Gesetzes.
 

Der Fall um den es geht
ist, so scheint es zumindest, einfacher als einfach. Solche Entlassungen auf
Bewährung behandeln russische Amtsgerichte, die sich in Städten befinden, in
deren Nähe Straflager liegen, in großen Mengen. Sicher auch das Gericht in
Welsk. Der Mensch, um den es hier geht, wurde zu 14 Jahren verurteilt. Von
ihnen hat er acht schon abgesessen. Er kann also von Gesetz wegen auf Bewährung
frei gelassen werden. Man kann ihn aber auch nicht frei lassen. Das muss das
Gericht entscheiden. 
 

Aber ist der Fall Lebedew
ein gewöhnlicher Fall? Natürlich nicht. Denn Lebedew ist einer der beiden in
der Welt bekanntesten gegenwärtigen russischen Gefangenen. Er ist von amnesty
international als Gewissensgefangener anerkannt worden (und amnesty
international geht dabei vorsichtig vor und wirft mit dieser Anerkennung in
Bezug auf Russland nicht um sich). Das Schicksal von Platon Lebedew und das
seines Kollegen Michail Chodorkowskij ist bei fast jeden internationalen
Treffen auf hohem Niveau ein Thema. Außerdem ist der fall JuKOS schon seit acht
Jahren ein Zankapfel in Russland selbst. Mit ihm beschäftigen sich viele tausenden
Publikationen. Und es ist natürlich kein Geheimnis, dass Lebedew und
Chodorkowskij ganz oben an Macht Feinde haben, die, wie es scheint, wünschen,
dass die beiden bis zur Unendlichkeit im Lager bleiben. Und noch etwas kommt
hinzu. Traditionell ist das wichtigste Dokument, das Einfluss auf die
Entscheidung über die Bewährung hat, die Beurteilung der Lagerverwaltung. Wir
wissen nicht, was sie dieses Mal über Lebedew aus jenen Lagern und Gefängnissen
geschrieben haben, in denen er die vergangenen acht Jahre gesessen hat. Dafür
ist gut bekannt, dass die Vollzugsbeamten dort keine sonderlich freien Leute
sind. Sie unterstehen den jeweiligen Bezirksleitungen und die wiederum der
zentralen Gefängnisverwaltung GUFSIN in Moskau. Und die wiederum unterstehen
noch höher Gestellten. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie schreiben, was ihnen
befohlen wird, auch wenn vieles sein kann…
 

Und zum Schluss muss auch
der kompromisslose Charakter des Bewährung Beantragenden erwähnt werden. Denn
Lebedew ist hartnäckig nicht bereit, sich schuldig zu bekennen. Wenn er das
täte, könnte man ihn schnell zu den „Resozialisierten“ rechnen. Aber er bekennt
sich nicht schuldig und lehnt es sogar ab, um Begnadigung zu bitten. Und
überhaupt spricht er meist direkt, scharf, ohne Ansehen der Person. Bei
Anträgen auf Bewährung verhalten sich Gefangene normalerweise anders, sie
verschweigen lieber etwas als zuviel zu sagen oder sabbern etwas über ihre
Loyalität. Von Lebedew sollte man so etwas in der Bewährungsverhandlung nicht
erwarten.   
 

Und all das versteht
natürlich der Richter sehr gut, der sein Urteil sprechen muss. Das wird im wohl
nicht leicht fallen. Was soll man ihm da wünschen?
 

Nun, eigentlich nichts
außer Anständigkeit und Mut.
 

Im Zusammenspiel mit
Professionalität (und der Richter ist, soweit ich das aus Ihrem Internetportal
entnehme, ein echter Profi) können diese Eigenschaften gar nicht anders als zu
einem gerechten Urteil und also zur Freilassung Lebedews führen.
 

Ich verstehe, und das
klingt sehr banal, dass ich einfach die grundlegenden Prinzipien aufgezählt
habe, wie sich ein Mensch in einer nicht einfachen Situation verhalten sollte. Dass
diese Prinzipien sich „von selbst verstehen“. Leider hat mich das Leben
gelehrt, dass wir uns alle (Richter oder nicht) viel zu oft anders verhalten,
von ganz anderen Prinzipien ausgehen, die in der Alltagspraxis gründen.
 

Das Urteil muss im Gesetz
begründet sein, das ist zweifellos so und das ist eigentlich ausreichend. Und
doch muss ich auch an etwas anderes erinnern, das auf das Urteil Einfluss haben
kann, etwas, das ich am Anfang schon erwähnt habe, an die Menschlichkeit.
 

Acht Jahre
Gefangenschaft, das ist sehr viel. Und wenn ich daran erinnere, dass Lebedew
und Chodorkowskij drei Viertel dieser Zeit nicht einmal im Lager, sondern i
Untersuchungsgefängnissen verbracht haben, dann ist es fürchterlich viel. Das
waren Jahre ohne frische Luft – die kurzen Spaziergänge auf den Gefängnishöfen
zählen hier nicht. Der Mensch sieht keine Bäume, kein Gras, keinen frischen
Schnee. Jemand, der nie gesessen hat, kann schwer verstehen, wie quälend das
ist. Das sind Jahre ohne wirkliche Besuche der Angehörigen, denn Gespräche nur
„durch Glas“ können eine Berührung der Hände von Eltern, Kindern, Ehefrau nicht
ersetzen. Normalerweise bleiben Gefangene für ein halbes Jahr in
Untersuchungshaft, manchmal auch ein Jahr. Aber die sechs Jahre von Lebedew
sind eine schwere zusätzliche Prüfung. Kein Gesetz kann das erklären oder
rechtfertigen.
 

Ich möchte dem Richter
wünschen, dass er die mit der mehrjährigen Gefangenschaft verbundenen Qualen,
die Lebedew schon erlitten hat, nicht vergisst. Das wird sein streng auf den
Gesetzen fußendes Urteil nur stärken.
 
Verehrter Konstantin Michajlowitsch!
 

Ich wurde selbst
in Welsk geboren. Dort saß schon vor dem
Krieg und in den Kriegsjahren im Lager Sewero-Dwinsk mein Vater. Im Herbst 1946,
einige Monate nach meiner Geburt, zogen wir aus Welsk fort und viele Jahre habe
ich über Welsk und die Welsker nur etwas von meinen Verwandten und den Freunden
meines Vaters erfahren. Und das
war fast immer etwas Gutes. Ich selbst war in Welsk später
nur ein Mal, vor 10 Jahren, und das auch nur für einen Tag. Natürlich habe ich
keine Vorstellung davon, wie es bei Ihnen heute aussieht. Die Vergangenheit von
Welsk ist für mich aber mit traurigen Gefühlen verbunden. Aber indem ich mich
ein wenig durch die Seiten von „Welsk-Info“ geklickt habe, bilde ich mir ein,
ein wenig vom heutigen Welsk zu spüren. Das scheint nicht nur eine gute Stadt
zu sein, sondern eine Stadt mit vielen Menschen, die eine staatsbürgerliche
Position haben, die mutig und verantwortlich handeln.  
 

Ich bin froh, dass viele
Bewohner von Welsk verstehen, wie zweifelhaft das Urteil gegen Chodorkowskij
und Lebedew ist. Ich möchte sehr hoffen, dass sich in meiner Geburtsstadt genug
Stärke und Humanismus findet, um die Gerechtigkeit zumindest in Bezug auf einen
von den beiden teilweise wieder herzustellen. Das ist wichtig für Welsk, das
ist wichtig für ganz Russland. Natürlich unterstütze ich die vom „Welsk-Info“
initiierte Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Freilassung von Platon
Lebedew auf Bewährung.
 

Ich bitte Sie, meine
Unterschrift unter den Aufruf zu setzen.
 

Arsenij Roginskij 

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Arsenij Roginskij, geboren 1946 in Welsk (Archangelsker Gebit). Studium an
der Philologischen Fakultät der Universität Tartu in Estland. Verfasser von
mehr als 80 Artikeln und Publikationen zur Geschichte der Russischen Leteratur,
insbesondere des 19./20. Jahrhunderts; in den 70er Jahren Redakteur und
Herausgeber einer Samisdat-Zeitschrift zur Geschichte der politischen
Repression und zur Menschenrechtssituation in der UdSSR (in Paris erschienen).

Von 1981 bis 1985 politischer Häftling. 1992 rehabilitiert. Mitbegründer
der Vereinigung „Memorial“ und seit 1988 Mitglied des Vorstandes.
Redakteur des historischen Almanachs „Zvenja“ und vieler
Veröffentlichungen von „Memorial“.

Von 1991 bis 1996 Mitglied in mehreren Parlaments- und
Präsidentenkommissionen, z.B. in der Kommission des Obersten Sowjets der
Russischen Föderation für Rehabilitierungsangelegenheiten in Fällen politischer
Repression, in der Kommission des Präsidiums des Obersten Sowjets der
Russischen Föderation zur Übergabe/Übernahme der Archive von KpdSU und KGB in
staatliche Archive und in der Kommission für Menschenrechte beim Präsidenten
der Russischen Föderation.
 

Vorsitzender des Vorstandes der internationalen Vereinigung
„Memorial“ und Vorsitzender des Moskauer historischen Zentrums
„Memorial“. Experte zu Fragen der Massenrepressionen und
Menschenrechtsfragen in der UdSSR, des Widerstands gegen das Regime in der
UdSSR, zur Archivpolitik im heutigen Russland und zu Fragen der
Informationspolitik. 

 


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