Niemand hat es
erwartet, ich auch nicht, umso größer ist die Freude über den Freispruch von
Oleg Orlow heute durch eine Richterin des Chamowniki-Gerichts in Moskau heute. Bis
zu drei Jahre hätte sie den Vorsitzenden des Menschenrechtszentrums von
Memorial ins Straflager schicken können. Das war zwar nach der recht milden
Forderung der Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer vorige Woche (eine
Geldstrafe in Höhe von umgerechnet rund 4.000 Euro) unwahrscheinlich, aber
allein der Gesichtswahrung wegen hatten alle Beobachter und Beobachterinnen mit
einer Verurteilung gerechnet. Nun also Freispruch.
Damit ist der
Fall aber noch nicht beendet. Denn erstens können sowohl Staatsanwaltschaft als
auch Nebenklage (also Kadyrow) das Urteil noch anfechten (dafür haben sie nun
zehn Tage Zeit) und zweitens ist die Begründung für den Freispruch eines
zweiten Blickes wert. Wenn man genau liest, kommt heraus, dass die Richterin die
angebliche Tat, also die Beleidigung des tschetschenischen Führers (offizieller
Titel seit kurzem nicht mehr „Präsident“, sondern „Oberhaupt der Tschetschenischen
Republik“) durchaus bejaht. Nur bestrafen könne man Orlow dafür nicht.
Um zu diesem
weniger salomonischen als sophistischen Urteil zu kommen bedient sich Richterin
Morosowa zweier Tricks. Mit dem ersten erklärt sie Oleg Orlows Aussage auf einer
Pressekonferenz vor zwei Jahren direkt nach dem Mord an Memorial-Mitarbeiterin
Natalja Estemirowa für eine Meinungsäußerung (und eben keine „Tatsachenbehauptung“).
Dazu dienen folgende Worte von Oleg Orlow: „Ich weiß, ich bin überzeugt davon wer
am Mord an Natalja Estemirowa Schuld ist“. Dieser Satz (und andere), so die Richterin
in ihrer Urteilsbegründung, sei eine Wertung, also keine Behauptung. Und da in
Russland Meinungsfreiheit herrsche, könne man alle möglichen Meinung haben,
wenn man nur nicht behaupte, sie seine Tatsachen. Also: Unschuldig!
Der zweite Trick
ist noch schöner. Denn damit wird Oleg Orlow flugs wieder schuldig. Die Richterin
verweist in ihrer Urteilsbegründung (hier auf Russisch) auf die Zivilklage, die Kadyrows gegen Orlow und
Memorial schon im Herbst 2009 angestrengt und auch gewonnen hat. Damals wurden sowohl
die Organisation als auch Orlow persönlich zu einer Geldstrafe verurteilt, weil
sie den „guten Ruf“ Kadyrows geschmäht hätten. Diese Urteile sind inzwischen
rechtskräftig. Dem Gesetz nach müssten sie im jetzt zu Ende gegangenen Prozess
als Beweismittel für Orlows Schuld zugelassen werden.
Richterin Morosowa
brachte nun das Kunststück fertig, genau das Gegenteil damit zu machen. Weil
Kadyrow ja im Zivilprozess schon für die Rufschädigung Kompensation erhalten
habe. Außerdem habe Orlow den guten Ruf Kadyrows durch eine durch das damalige
Gericht geforderte entsprechende Erklärung wieder hergestellt. Das wiederum
habe das Gericht damals unabhängig davon fordern können, ob Orlow Kadyrow nun
irrtümlich oder mutwillig verleumdet habe. Daher hätte Kadyrow im jetzigen
Prozess erneut nachweisen müssen, dass die Verleumdung mutwillig geschah. Das
sei nicht geschehen, Orlow also freizusprechen.
Ungeachtet all
dessen, zeigt auch dieser Prozess wieder, dass russische RichterInnen, vor
allem der unteren Instanzen arme Würstchen sind. Entweder sie sprechen Recht.
Dann kann es was von oben auf die Mütze geben. Oder aber sie sprechen Unrecht.
Dann strafen (manchmal, wenn auch viel zu selten) mitunter das eigene Gewissen und
der professionelle Stolz. Richter Danilkin im Chodorkowskij-Prozess hat keinen
Ausweg gefunden. Richterin Morosowa im Orlow-Prozess hat es zumindest versucht.
Gerechter Weise
muss sich allerdings zugeben, dass, bei aller verdienten Hochachtung für den
Mut, die Gradlinigkeit und die Standhaftigkeit meines Freunde Oleg Orlow, der
Chodorkowskij-Prozess doch noch ein wenig bedeutender, der Druck auf Richter Danilkin
wohl auch unvergleichlich höher gewesen sein dürfte. Man konnte es ihm an
seinem Richterplatz im Gerichtssaal ansehen.