Russische Freiheit und Freiheit in Russland

Vorige Woche gab es zwei für die Freiheit in Russland wichtige Jubiläen. Das
eine, der 80. Geburtstag von Michail Gorbatschow am 2. März, war auch im Land,
vor allem aber im Westen viel beachtet. Präsident Medwedjew zeichnete den
ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion mit einem Orden aus. Doch
Michail Gorbatschows Ruf in seinem Heimatland ist, mit Verlaub gesagt,
grottenschlecht. Das ist vor allem psychologisch erklärbar, aber trotzdem
natürlich himmelschreiend ungerecht. Doch davon später.

Das zweite
Jubiläum berührte das Land kaum und blieb im Westen fast völlig unbeachtet: Vor
150 Jahren, am 19. Februar 1861 nach dem Julianischen Kalender (also heute am
3. März) hob Zar Alexander der Zweite, der „Befreierzar“ die Leibeigenschaft
auf. Damit begannen, der Ermordung des Zaren und seiner selbst-herrscherlichen
Nachfolger ungeachtet, gut 50 Jahre, die das Freieste waren, das Russland bis
1991 erleben sollte. Das Ende der Leibeigenschaft war der russisch-bürgerliche
Urknall. Verspätet zwar, am Westen gemessen, um zwei-drei Generationen, aber
welche kulturelle, welche soziale Kraft sich da entfalten sollte (aus der,
natürlich, faustisch auch die Bolschewiken entsprangen)!  

Fast schon
revolutionäre Worte fand Präsident Medwedjew in einer Feierstunde in St.
Petersburg und zog unausgesprochene historische Parallelen: Eine
„militärisch-bürokratische Vertikale“ sei perspektivlos, man könne
„die Freiheit nicht aufschieben“. Na denn man zu!! Möchte man ihm
zurufen. Doch immer noch ist nicht klar, weiß niemand zu sagen (und die
behaupten es sagen zu können, wollen entweder manipulieren oder pfeifen im
Walde (eine durchaus mitunter erfolgreiche Methode im Übrigen)), ob das nun
„Teil eines Machtkampfes“ mit Putin ist oder weiter Teil eines Rollenspiels,
des alten vom „guten“ und vom „schlechten“ Polizisten. Ich bleibe vorerst
dabei: Beifall für gute, richtige Worte, aber Skepsis und durchaus auch
Reserviertheit ohne Taten. Und Medwedjews Taten… Halb will er  nicht, halb kann er nicht.

Es wäre eine
komplizierte Frage, zu erforschen, ob Medwedjew als russischer Präsident heute
mächtiger ist als Gorbatschow es war am Ende der Sowjetunion. Wahrscheinlich,
zusammen mit Kompagnon Putin, schon. Mächtiger zumindest als der Präsident
Gorbatschow, vielleicht nicht mächtiger als der beginnende Generalsekretär
1984/85. Der hatte noch alle Machtinstrument, in 65 Jahren
Bolschewistenherrschaft geschliffen, in der Hand. Vielleicht waren sie unter
dem späten Breschnjew etwas verwahrlost, aber sie waren noch da, mussten, so
dachten viele, wenn nicht fast alle, nur ein wenig modernisiert werden. Und das
versuchte Gorbatschow.

Allerdings war
der neue, erstaunlich junge Generalsekretär, im stupenden Gegensatz zu seinen
Vorgängern, mehr ein Mann des Wortes als ein Mann der Macht. Auf das Wort
vertraute er, vielleicht ein wenig naiv, aber er vertraute. Und das
Freiheitsschlüsselwort der Zeit war „Glasnost“, „Offenheit“, nicht das heute
viel stärker erinnerte „Perestroika“, „Umbau“.

Genau das aber
ist es, was den Kern der Vorwürfe, den Kern der Verachtung, ja des Hasses
Michail Gorbatschow gegenüber heute in Russland ausmacht: Ein Mann des Wortes,
kein Mann der Macht. Ein Schlappschwanz also. Nun weiß auch Putin seine Worte
zu setzen, und ihn liebt man dafür oder achtet ihn zumindest, tritt ihm mit
Anerkennung entgegen. Doch Putins Worte sind Waffen, spitze, ätzende,
verletzende. Sie sind das zynische Hinterhergezische denjenigen gegenüber, die
schon im Dreck liegen. Putin liebt als Mächtiger Witze über Ohnmächtige zu
machen.

Gorbatschow
versucht zu überzeugen, damals – und heute, ohne Macht, umso mehr. Dass er das
auch versuchte, als er an der Macht war, haben ihm viele in Russland nicht
verziehen. Für sie hätte er handeln müssen, möglichst hart, so wie später Putin
den Tschetschenen gegenüber (Jelzin versuchte das zwar auch, aber sein Versuch
war zu erfolglos, um bei den Hardlinern Anerkennung  zu finden).

Dahinter steht
die Hoffnung, die Sehnsucht gar, das Ende der Sowjetunion hätte vermieden
werden können, wäre Gorbatschow nur „hart genug“ gewesen und nicht nur ein
„Schwätzer“. Hätte er nur Panzer und Sondereinsatztruppen nach Baku, Vilnius
oder Riga geschickt. Das hört man oft in Russland. Und viele sind überzeugt,
dass sich Freiheit mit Härte nur schlecht verbindet. Das ist nicht ganz falsch,
wenn unter Härte in erster Linie Gewalt gemeint wird und nicht Festigkeit,
vielleicht Prinzipientreue. Komischerweise bleibt so jemand wie Mahatma Gandhi,
ein harter Geist wie selten einer, ein seltsamer Kauz im russischen
Bewusstsein.

Doch zurück zu
Gorbatschows 80. Geburtstag. Wie schon gesagt, der erste und letzte Präsident
der Sowjetunion, redet. In einem der vielen Interviews rund um das Jubiläum
kritisierte er die herrschende Elite scharf (wohlwollend könnte man sagen, er
gab ihnen gute Ratschläge). Russland sei weiter auf dem Weg zu Demokratie, aber
„wir sind noch nicht einmal den halben Weg gegangen. Wir haben ein Parlament,
Gerichte, einen Präsidenten und einen Premierminister, aber das ist mehr
Imitation, es gibt keine effektive Arbeit, vor allem der Gerichte und des
Parlaments.“

Gorbatschow
kritisierte auch das Urteil im Prozess gegen Michail Chodorkowskij und Platon
Lebedew. Dort habe es „keine gerechte juristische Abwägung“ gegeben. Und die
Politik hätte sich nicht einmischen dürfen (so direkt hat Gorbatschow Putin
noch nie kritisiert). Er glaube den Aussagen der Pressesprecherin des Gerichts,
dass der Richter das Urteil nicht selbst geschrieben habe. Das müsse untersucht
werden, fordert Gorbatschow. Und weiter: Die Kremlpartei „Einiges Russland“ sei
eine „schlechtere Kopie der KPdSU“. Es sei sehr schade, dass die „heutigen
Staatsführer nicht sehr modern seien“.        

 
Und ein letzter Gedanke dazu, der mir bei der Lektüre von Boris Budens „Zone des Übergangs. Vom
Ende des Postkommunismus“ (edition suhrkamp 2601) gekommen ist. In Russland
wird Gorbatschow und den dort sogenannten „Liberalen“ (das neue Wort für „Westler“)
vorgeworfen, sich dem Westen an den hals geworfen zu haben, sich gar
untergeordnet zu haben. Das mag so aussehen und solche Leute gibt es
tatsächlich, die einen triumphalen Pro-Amerikanismus als Form des Selbsthasses
pflegen. Doch in vielem werden hier Subjekt und Objekt verwechselt. Nicht die
Befreier Russlands (und aller anderen ehemals sozialistischen Länder) haben
sich untergeordnet. Sie sind untergeordnet worden. Ihr Sieg über das
Unterdrückungsregime wurde vom herrschenden westlichen Geschichtsdiskurs zu
einem Sieg des Westens, seiner Überlegenheit uminterpretiert. So wurde aus den
historischen Siegern über Nacht (zumindest auch) Verlierer. Ihre Tragik – und die
Tragik Gorbatschows – ist es, dass diese Lesart sowohl den politischen Eliten
des Westens als auch den herrschenden des Ostens (und der großen Masse der
Menschen in Russland) höchst zupass kommt.


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