Analog und Digital: Zwei russische Öffentlichkeiten am Beispiel eines Finanzministers

Die Fehler des Herrn zu Guttenberg lehren, dass es nicht nur ein Frage der Ehre, sondern auch praktisch nützlich ist, darauf hinzuweisen, wenn man sich der Ideen anderer Menschen bedient. Also: Auf die Idee für diesen Blogeintrag hat mich Nikolaus von Twickel gebracht, Redakteur bei einer der besten, wenn leider auch nur englischsprachigen (vielleicht auch: eben deshalb) Tageszeitungen Russlands, der The Moscow Times.  

Nikolaus ist ein eifriger Facebook-Poster – und ich bin einer seiner Facebook-Freunde (eine ganz besondere Kategorie von Freundschaft). Ich hatte gestern bereits über die offenen und kritischen Worte des russischen Finanzministers Alexej Kudrin beim Ökonomischen Forum in der sibirischen Metropole Krasnojarsk gelesen. Kudrin erklärte dort, vor mehr als 1.500 TeilnehmerInnen aus Verwaltung, Wirtschaft und Politik, Russland brauche „faire Wahlen“ und zwar sowohl zum Parlament, der Staatsduma im kommenden Dezember als auch bei den Präsidentenwahlen in einem Jahr im März 2012. Ohne faire Wahlen, so der Mann, der nach Meinung vieler Wirtschaftsexperten entscheidend dazu beigetragen hat, Russland einigermaßen über die Finanzkrise zu helfen, werde es nichts mit der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes.  

Zwar klang das im Original etwas verschraubter als in meiner Zusammenfassung, doch die Botschaft ist klar: „Es ist sehr wichtig, dass die Gesellschaft sich darüber bewusst wird, dass diese Wahlen ein Test sein werden, eine Schau für die Dinge, die die Staatsmacht tut, damit die Wahlen gerechte und faire werden, damit an diesen Wahlen alle führenden politischen Kräfte und Vertreter der Gesellschaft beteiligt sind. Nur das wird jenes Mandat bringen, das notwendig ist, um Reformen durchzuführen. Wenn das Ergebnis Misstrauen sein wird, dann werden wir unsere Aufgaben nicht in vollem Umfang lösen können.“ Freiheit, so Kudrin weiter, sei besser als Unfreiheit, „und in dieser Frage haben wir noch einen weiten Weg vor uns“.  

Nun ist Kurdin bisher nicht als großer Kämpfer der Freiheit aufgefallen. Ihm lastet der Makel vieler an, die in Russland für eine liberale Marktwirtschaft eintreten: Sie verstehen nicht den Zusammenhang (oder unterschätzen ihn zumindest) zwischen ökonomischen und politischen, bürgerlichen Freiheiten. So kommt es, dass die gesellschaftspolitisch konservative bis reaktionäre Regierung Putin/Medwedjew sich mit einer marktliberalen Wirtschaftspolitik verbunden hat, die weiter westlich in Europa ganz ohne sozialistischen Hintergrund maximal als „frühkapitalistisch“ durchginge und nur geringe gesellschaftliche Akzeptanz fände.    

(Kleiner Einschub: Böse, man könnte auch sagen kritische Zungen behaupten, diese Verbindung sei  nur logisch, denn allein sie, also die Mischung aus autoritärer Herrschaft und ökonomischem Laissez-faire, garantiere optimale Bereicherungsbedingungen für die politisch Herrschenden)     

Doch zurück zum Thema und der von Nikolaus von Twickel inspirierten Idee: All das oben von Kudrin gesagte ist an vielen Stellen im russischen Internet nachzulesen (und ich habe mir nicht die Mühe gemacht, zu schauen, ob es nicht irgendwo auch ein kleines Filmchen darüber gibt. Die Erfahrung zeigt aber, dass man wahrscheinlich fündig würde). Im Medien-Mainstream, also auf den großen Fernsehkanälen, wird den ZuschauerInnen aber eine ganz andere Version aufgetischt. Als Bespiel mag die Hauptnachrichtensendung „Wremja“ des staatlichen „Ersten Kanals“ (so etwas wie sie russische Tagesschau) von gestern Abend dienen. Dort wurde Kudrin auftritt wie folgt abgehandelt:  

Sprecherin: „Russland kann sich von der Rohstoffabhängigkeit befreien, wenn es gelingt, das Tempo des Industriewachstums und der Investitionen zu erhöhen. Darüber wurde heute beim Ökonomischen Forum in Krasnojarsk gesprochen. Am Forum nahmen mehr als 1.500 Menschen teil, Leiter von Behörden, Wissenschaftler, Experten und Vertreter der Wirtschaft. Hauptthema der Diskussion waren die Lehren aus der weltweiten Krise und die Perspektiven des Wirtschaftswachstums in Russland nach ihrem Ende.“  

Dann ein kleiner Einspieler mit Finanzminister Kudrin: „Russland hat [die Krise], mag sein, besser überstanden als andere Länder, weil es vor der Krise seriöse Rücklagen gebildet hatte, und dass obwohl die Risiken für die russische Wirtschaft größer waren als bei vielen anderen. Wir kommen schon aus der Krise heraus. Unsere Industrieproduktion hat bereits wieder 97 bis 98 Prozent des Niveaus vor der Krise erreicht. Ich denke, dass wir zum Jahresende, zum Beginn des kommenden Jahres das Vorkrisenniveau wieder erreicht haben werden.“     

So lebt das Land weiter in zwei Welten: einer alten, analogen, aber immer noch die Macht habenden, und einer neuen, digitalen, immer stärker, immer einflussreicher werdenden, wenn auch bisher noch im Untergrund befindlichen.

 


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