Chodorkowskij-Prozess in der Zielgerade

Der Prozess gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew geht nun endgültig zu Ende. Seit zwei Wochen plädiert die Staatsanwaltschaft, wohl ab Anfang nächster Woche ist die Verteidigung mit ihrem Schlussplädoyer dran. Nun muss sich entscheiden, wieviele weiter Jahre im Gefängnis den beiden bekanntesten russischen Gefangenen noch bevorstehen. Hier zu prognosieren ist natürlich riskant, vor allem weil wohl kaum der Richter nach rechtsstaatlichen Maßstäben das Urteil spricht, sondern Kreml und Weißes Haus nach politischen.

Der von mir im Sommer gezeigte Weg, wie Chodorkowskij und Lebedew im diesem zweiten Prozess zwar nicht freigesprochen, aber auch nicht verurteilt werden könnten, und damit im kommenden Jahr, nach Ablauf ihrer Strafe aus dem ersten Prozess (beide bekamen acht Jahre) freikämen, war damals schon unwahrscheinlich und erscheint inzwischen ausgeschlossen. Vor allem nach wiederholten Äußerungen von Premierminister Wladimir Putin zu den angeblich „blutigen Händen“ Chodorkowskijs Ende des Sommers muss man von einer Verurteilung ausgehen. Mit dem Plädoyer der Anklage gibt es auch gewisse Hinweise darauf wie das Urteil aussehen könnte.

Die der Anklage zu Grunde liegenden Strafrechtsparagraphen ließen eine Lagerhaftstrafe von bis zu 15 Jahren zu. Nun hat die Staatsanwaltschaft aber zwei Anklagepunkte fallen gelassen und im Hauptanklagepunkt die Menge des angeblich von Chodorkowksij und Lebedew ihrem eigenen Ölkonzern gestohlene Öls niedriger angesetzt als im Prozessverlauf. Das lässt darauf schließen, dass sie nicht die größtmögliche Haftdauer fordern wird.

Der wichtigste Einwand gegen eine Freilassung der beiden Angeklagten im kommenden Jahr waren immer die Ende Dezember 2011 anstehenden Parlaments- und die kurz darauf im März 2012 stattfindenden Präsidentenwahlen. Kaum jemand in Russland kann sich vorstellen, dass die Sicherheitsfanatiker im Putin-Medwedjew-Team vor den Wahlen solch eine Entscheidung zuließen, deren Folgen aus ihrer Sicht nicht sicher zu kontrollieren wären. Und Kontrolle ist, da sind sie ganz Leninisten, alles.

Ein Freilassung Chodorkowkijs und Lebedews hätte aber, gerade aus Kremlsicht, außer diesen Sicherheitsbedenken nur Vorteile. Man wäre eine Sache los, für die man sich ständig rechtfertigen muss, oder gegen Kritik ihretwegen in harten Worten verwahren. Das war schon bisher unbequem und passt zudem inzwischen nicht mehr ins ost-westliche Tauwetter auf fast allen Ebenen. Als möglicher politischer Konkurrent ist Chodorkowskij längst keine Gefahr mehr, wenn er das überhaupt je gewesen ist.

Wie könnte das gehen? Ich wage erneut, trotz des sommerlichen Misserfolgs, eine Prognose. Das Gericht beschließt, dass vier oder fünf Haftjahre für die zur Last gelegten Verbrechen ausreichend sind. Nach russischen Recht beginnt das Zählen dieser zusätzlichen Jahre aber nicht am Ende der ersten Haftdauer, sondern mit Beginn des zweiten Verfahrens. Vier bis fünf Jahre hießen dann, Chodorkowskij und Lebedew könnten 2012 oder 2013 das Gefängnis verlassen. Die Wahlen wären vorbei und Putin oder Medwedjew wären inzwischen für sechs Jahre zum Präsident gewählt.

Nun wird mitunter eingewandt, ein so „mildes“ Urteil vertrage sich nicht mit den von Putin behaupteten „blutigen Händen“. Nur auf den ersten Blick. Präsident oder Premier Putin (je nachdem) könnte sich, mit entsprechenden Fragen konfrontiert, hinstellen und stolz erklären (wobei ihn sein spöttisches Gesicht selbstverständlich verraten würde und sollte), in Russland seien Gerichte eben unabhängig. Er, Putin, hätte diesen Verbrecher Chodorkowskij, gern länger hinter Stacheldraht gesehen. Aber der Rechtsstaat habe nun einmal anders entschieden. So wie es aussieht, wäre das nicht der schlechteste Ausgang, zumindest für die beiden Gefangenen.


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