Chodorkowskij-Prozess: Eine lehrreiche Stunde im Gericht. Die Aussage des ehemaligen Zentralbankchefs Wiktor Geraschtschenko

Vom Prozess gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew, den vormaligen Anteilseigner des JuKOS-Konzerns, war länger nicht die Rede in diesem Blog. Das ist eigentlich fahrlässig. Denn dieser Prozess ist einer der Gradmesser, der Temperaturfühler, die zeigen, wie es um das politische Klima in Russland bestellt ist. Doch darüber, warum das so ist und welche Probleme daraus entstehen, in Kürze einmal ausführlicher.

Seit über einem Jahr zieht sich der Prozess nun schon hin. Seit dem Frühjahr werden die Zeugen der Verteidigung befragt. Heute soll es um eine besondere Zeugenaussage gehen. Gestern, am 1. Juni 2010, trat unter anderem Wiktor Geraschtschenko in den Zeugenstand. Geraschtschenko war 1989 bis 1991 letzter Vorstandsvorsitzender der Zentralbank der UdSSR und leitete dann bis 1994 und noch einmal von 1998 (nach dem Staatsdefault) bis 2002 die russische Zentralbank. 2004, nach der Verhaftung von Michail Chodokowskij wurde er bis zu dessen Zerschlagung Vorstandsvorsitzender des JuKOS-Konzerns.

Schalten wir hinüber in den Gerichtssaal:

 

Als die Verteidigung den Namen des Zeugen
nannte, erstarrten die Staatsanwälte.

 

„Nun… nun…,“ stotterte auch der Richter.
„Haben die Staatsanwälte dazu ein Meinung?“

 

„Das ist eine völlig unbegründete Befragung
dieser Person,“ erklärte der Hauptankläger Lachtin. „Völlig unmotiviert und dem
Geist des Gesetzes widersprechend.“

 

Aber der Richter ließ den Zeugen trotz der
Einwände der Staatsanwälte zu.

 

„Welcher Verbindung zwischen ihm und der
Strafrechtssache gibt es überhaupt?“ widersetzte sich Lachtin weiter, indem er
mit dem Finger auf den Zeugen zeigte. „Wer ist das überhaupt? Das wissen wir nicht!“   

 

Wenn Staatsanwalt Lachtin nicht, wovon ich
mich mehrfach im Gerichtssaal persönlich überzeugen konnte, eine durch und
durch mediokre Figur wäre, könnte man diese Frage fast originell nennen. Genau
so versuchte Premierminister Putin am vergangenen Wochenende dem Rockstar Jurij
Schewtschuk im Gespräch
über die russische Demokratie am Anfang die Oberhand zu
behalten. Davon war gestern in diesem Blog die Rede. Doch weiter im Gerichtssaal.

 

Der der Anklage also unbekannte ehemalige
Zentralbankvorsitzende, Präsidentschaftskandidat und JuKOS-Generaldirektor
Wiktor Geraschtschenko sagte eine Stunde darüber aus, was in den Jahren direkt
nach der Verhaftung Chodorkowskijs passierte.

 

„2004, nach der Verhaftung von Chodorkowskij
und Lebedew bekam ich vom JuKOS-Management das Angebot, Vorstandsvorsitzender
zu werden. Die Leute bei JuKOS sagten mir: Wir brauchen einen Menschen, der sich
kompetent mit den gegen die Firma vorgebrachten Anschuldigungen auseinander
setzen kann. Die Ansprüche gegen JuKOS basierten auf neueren Interpretationen der
Steuergesetzgebung, die viele Löcher hatte, die alle Ölkonzerne Russland
ausgenutzt haben…“

 

Diesen Gedanken konnte Geraschtschenko nicht
zu Ende bringen. „Diese Frage hat rechtlichen Charakter!“ empörte sich
Staatsanwalt Lachtin. „Ich fordere sie zu streichen!“

 

Geraschtschenko schaute den Staatsanwalt
streng an. Der Richter ließ ihn weiter aussagen.

 

„2004 drangen Gerichtsvollzieher gemeinsam mit
Sondereinsatztruppen in unser Büro ein, insgesamt 50 Männer! Sie haben alles
beschlagnahmt: Dokumente, Festplatten. Dabei gingen sie grob vor.“

 

Die Gerichtsvollzieher forderten den Angaben
Geraschtschenkos nach, alle Tochterfirmen von JuKOS zu beschlagnahmen. JuKOS habe
im Gegenzug der Steuerbehörde und den Gerichtsvollziehern schriftlich angeboten,
seine Anteile an dem Ölkonzern „Sibneft“ und seine nicht zum Ölgeschäft
gehörenden Aktiva zu verkaufen. Vom Erlös sollten dann die Steuerschulden für
das Jahr 2001 bezahlt werden. Alle früheren Steuerforderungen waren zu diesem
Zeitpunkt nach Geraschtschenkos bereits fast vollständig beglichen.

„Doch die Gerichtsvollzieher haben uns ‚nein'
gesagt“, fuhr Geraschtschenko im Gericht fort. „Die Aktien dürfen wir nicht
verkaufen, weil ‚unsere Beziehungen zu Sibneft kompliziert' seien. Sie, so
wurde uns gesagt, würden andere Aktive suchen. Und am nächsten Tag wurde
bekannt, dass sie Juganskneftegas meinten.“

 

Jugansneftegas war das Herzstück des
JuKOS-Konzerns, der Teil mit der größten Ölfördermenge und den größten
unerschlossenen Reserven. Geraschtschenko unterstrich in seiner Aussage, dass
er es für das eigentliche Ziel der Gerichtsvollzieher hält, die Hauptaktive von
JuKOS unter ihre Kontrolle zu bringen, da JuKOS ohne Juganskneftegas zum
Untergang verurteilt war. Es ging also
darum, den Konzern zu zerschlagen.

 

Geraschtschenko schilderte weiter, wie dann die
erst tags zuvor gegründete Firma  Baikalfinansgrup
Juganskneftegas dann kaufte und sogar Gasprom überbot. Die niemandem bekannte
Baikalfinansgrup hatte ein Gründungskapital von 10.000 Rubel, damals etwa 300
Euro, konnte aber binnen 24 Stunden 49 Milliarden Rubel (umgerechnet rund 1,5
Milliarden Euro) als Sicherheit für den Kauf hinterlegen und Juganskneftegas
nach Aussagen von Geraschtschenko zum halben Marktpreis erwerben. Schon kurze
Zeit später verkaufte die gerade erst gegründete und später nie wieder
aufgetauchte Firma Juganskneftegas an den in Staatsbesitz befindlichen
Ölkonzern Rosneft weiter.

 

„Hat Rosneft ihnen nicht mitgeteilt, dass sie
nach dem Kauf der Aktive von JuKOS dort das Fehlen bedeutender Mengen Öls
feststellten?“ wollten die Anwälte von Chodorkowskij vom Zeugen wissen. Eine
nicht ganz unwichtige Frage. Denn in diesem zweiten Prozess werden Michail Chodorkowskij
und sein Partner und Mitangeklagter Platon Lebedew beschuldigt ihrem eigenen Konzern
fünf Jahre lang praktisch die gesamte Fördermenge Öl gestohlen zu haben. Viel
hätte beim Verkauf folglich nicht mehr übrig sein können.  

 

Geraschtschenko: „Nein, solche Erklärungen
habe ich von Rosneft nicht gehört. Und überhaupt, ich habe auch von anderen
Käufern von JuKOS-Aktive nichts dergleichen gehört. Ich habe dann versucht, mit
der Staatsführung zu sprechen. Ich habe die Kanzlei von Putin (damals
Präsident, JS) angerufen. Die Kanzlei hat mich an Medwedjew (damals Leiter der
Präsidentenadministration, JS) verwiesen. Dessen Kanzlei wiederum sagte mir, er
sei immer unabkömmlich. Letztendlich stieß ich auf Igor Schuwalow (damals Stellvertreter
von Medwedjew und heute stellvertretender Ministerpräsident, JS). Ich sagte zu
Schuwalow, dass die Gruppe MENTEP (Investitionsfirma von Chodorkowskij und
Partnern, die die Anteile an JuKOS hielt, JS) bereit sei, die in ihrem Besitz
befindlichen JuKOS-Anteile JuKOs direkt zu übertragen, sollte es möglich sein, zu
einer Einigung über die Steuerschulden zu kommen. Wir dachten, dass wir mit
diesem Vorschlag einen Konsens erreichen könnten. Das hat übrigens 2004 auch
Jean Chretien (damals kanadischer Premierminister, JS) Putin bei einem Treffen
in Moskau gesagte. Doch Wladimir Wladimirowitsch (Putin, JS) antwortete: ‚Ich
stehe außerhalb dieser Sache'. Die JuKOS-Leute sollte dem Premierminister und
dem Finanzminister schreiben. Das haben wir auch getan. (…) Doch eine Antwort haben wir niemals erhalten.“  

 

Weiter kam Geraschtschenko auf die Insolvenz
von JuKOS zu sprechen: „14 Banken haben in aller Stille ihre Forderungen JuKOS
gegenüber an Rosneft verkauft, weil Rosneft versprach, sie zu tilgen. Doch
Rosneft hat damit die Insolvenz von JuKOS eingeleitet.“  

Danach kam Geraschtschenko auf die
Wirtschaftsprüfer von JuKOS zu sprechen, auf die bekannte internationale
Auditfirma PricewaterhouseCooper (PwC). Die Generalstaatswanwalschaft hatte
inzwischen ein Strafverfahren auch gegen die Wirtschaftsprüfer eingeleitet.

 

„Am 14. Juli 2007 rief mich Frau Jelisaweta Filippowa
an, die Generaldirektorin von Pricewaterhouse in Moskau, und bat um ein
Treffen. Sie kam zu mir und sagte: ‚Ich muss Sie enttäuschen: Morgen werden
Rebgun (der Insolvenzverwalter, JS) und sie zwei Briefe erhalten, in denen wir,
PwC, mitteilen, dass wir unsere Wirtschaftsprüfberichte der vergangenen zehn
Jahre zurück ziehen…' Ich habe mir diese Briefe angesehen und verstanden, dass
sie das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben wurden. Die Wirtschaftsprüfer
waren unter Druck gesetzt worden. Für mich war das ein weiterer Beweis dafür,
dass das Vorgehen gegen JuKOS politischen Charakter hat.“

 

„Ist Ihnen bekannt, was man Chodorkowskij und
Lebedew vorwirft?“ wollte daraufhin die Verteidigung wissen.

 

Geraschtschenko: „Natürlich. Völliger Unsinn!“

 

„Ich muss doch bitten“, unterbrach
Staatsanwalt Lachtin. „Ich muss doch bitten! Diese Sache, solche Fragen müssen
gestrichen werden!“

 

Doch der Richter forderte den Zeugen auf: „Können
sie darauf antworten?“

 

Geraschtschenko: „Ja. Sie werden unrechtmäßig beschuldigt, Öl gestohlen zu haben. Aber in
diesem Fall, wenn das wirklich so gewesen wäre, hätte JuKOS niemals drei Jahre lang
als größter Ölkonzern im Lande gelten können.“

 

Die Schilderung und vor allem die Zitate stützen sich wesentlich auf die in der Nowaja Gaseta veröffentlichten Stenogramme von Wera Tschelischtschewa, die seit langem unermüdlich im Prozess sitzt und protokolliert. Ihr, ihren KollegInnen und der Nowaja Gaseta gebühren dafür viel Dank.


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