Noch vor einem Monat, Anfang November, waren von allen Seiten nur optimistische Töne zu hören. Sowohl westliche Diplomaten als auch russische Experten waren einhellig der Meinung (und belegten sie mit entsprechenden Hinweisen aus Gesprächen mit „den Verhandlungen Nahestehenden“), dass noch vor dem Auslaufen des alten Vertrags über die Begrenzung strategischer Atomraketen zwischen den USA und Russland (früher: Sowjetunion) namens START am 5. Dezember ein neuer unterzeichnet würde. So ist es nicht gekommen. Zwar versicherten sowohl Barack Obama als auch Dmitrij Medwedjew, beide Länder würden sich trotzdem so verhalten, als ob der alte Vertrag vorerst weiter gelte. Das kann aber den Misserfolg der Verhandlungen nicht verdecken. Was ist schief gegangen?
Da sind erst einmal die Erwartungen. Schon beim sogenannten „Reset“ der Beziehungen Anfang Juni lebten die Hoffnungen auf einen schnellen Neuvertrag vom psychologischen Moment und hatten viel mit Obamas neuem Stil zu tun. Ich habe diese Hoffnungen in diesem Blog unter der Überschrift „Obama und Medwedjew – Beginn einer neuen Abrüstungsrunde?“ bereits am 6. Juni skeptisch beleuchtet. Die Hauptthese von vor einem halben Jahr gilt immer noch: Russland hat kein Interesse an einem neuen Vertrag, der einen Einstieg in die völlige Abschaffung der strategischen Atomstreitkräfte bedeutet. Die russischen Atomstreitkärfte sind hoffnungslos veraltet und die Modernisierung kommt nicht voran. Schon jetzt hat Russland weit weniger strategische Atomraketen als es nach dem ausgelaufenen START-Vertrag dürfte, gegenwärtig etwas mehr als 600 Trägersysteme. Geht das Modernisierungstempo so weiter wie in den vergangenen Jahren (zwischen 1999 und 2008 wurden jährlich im Schnitt etwa 5 neue Raketen in Dienst gestellt), wird diese Zahl auf rund 150 einsatzfähige Systeme herunter gehen, weil bis dahin viele noch zu Sowjetzeiten gebaute Raketen vom Typ SS18 und SS19 ausgemustert werden müssen. Kurz: Für Russland wäre ein neuer Vertrag nur sinnvoll, wenn die USA viel stärker abrüsteten als Russland.
Für Russland geht es in dieser Abrüstungsrunde vor allem um zwei Dinge: Erstens von den USA weiterhin auf gleicher Augenhöhe anerkannt zu werden (und das muss sich auch in vorzeigbaren Zahlen ausdrücken). Zweitens soll der Abstand zu den anderen Atommächten, vor alllem zu China gehalten werden. Aus Sicht der USA liegen die Ziele anders. Es geht wohl in erster Linie darum, Russlands Risikopotential zu verringern, um den Rücken für aus Washingtoner Sicht drängendere Fragen wie den Iran, Nordkorea, aber auch China frei zu bekommen. dabei könnte die verhinderung zu enger russisch-chinesischer Bindungen durchaus ein Grund sein, dem Kreml weiter entgegen zu kommen als von militärischen Potential her notwendig erscheint.
Es ist natürlich auch den russischen Verhandlern klar, dass die USA auf diesem Gebiet Russland mehr brauchen als umgekehrt. Zudem scheint sich in der russischen politischen Elite mehr und mehr die Vorstellung durchzusetzen, die USA seien auf dem absteigenden Ast. Das erhöht die Kompromissbereitschaft nicht gerade.
Dazu haben sowohl der außenpolitische Stil Obamas als auch seine bisher anscheinend ausbleibenden Erfolge beigetragen. Das gilt für das Problem des iranischen Atomprogramms, mehr noch aber für die enormen Probleme der NATO (und diese Abkürzung wird in Russland immer als USA gelesen) in Afghanistan. In der Bewertung von Obamas Stil dürften sich die meisten russischen Politiker und Experten mit den US-amerikanischen Republikanern einig sein: Dieser Präsident ist eindeutig ein Weichei und wird so in der grausamen Welt der Geo- und Machtpolitik von den anderen Haien gefressen werden. Der jüngste Obama-Besuch in China wird dafür als neuester Beleg gesehen. So sehr George W. Bush hierzulande gehasst wurde, so sehr teilt man doch seine außenpolitische Weltsicht.
Jedes Land beurteilt zudem die Entwicklungen anderswo immer auch, oft sogar bervorzugt aus den eigenen Erfahrungen heraus. In Russland wird Obama immer öfter mit Michail Gorbatschow verglichen. Dabei werden drei Dinge besonders hervorgehoben: Afghanistan, die Charme. Offensive nach außen und ein Imperium, dass seinen Zenit überschritten hat. In Afghanistan, so diese Lesart, werden die USA ihr „zweites Vietnam“ erleben (so wie die Sowjetunion dort ihr „erstes Vietnam“ erlebte), nur schlimmer. Auch Gorbatschow sei im Ausland besonders beliebt gewesen, aber vor allem, weil er gegen die Interessen des eigenen Landes gehandelt habe. Gleiches wird Obama mit seinem neuen außenpolitischen Stil auch unterstellt. Beides zusammen werde den schon begonnen habenden Abstieg der USA als Weltmacht Nummer ein beschleunigen.
Was hat das mit den laufenden Abrüstungsverhandlungen zu tun? Warum soll man, wenn sich sowieso nichts ändert, weil weder Russland noch die USA die Kraft und/oder ein Interesse daran haben wieder atomar aufzurüsten und den alten Vertrag freiwillig weiter einhalten werden, jetzt einen neuen Vertrag abschließen? Nächstes Jahr ist vielleicht bei einem weiter geschwächten Verhandlungspartner mehr heraus zu holen.