Vor drei Wochen habe ich in diesem Blog schon von der neuen Phase im Chodorkowskij-Prozess in Moskau geschrieben. Mit der Zeugenbefragung, so versichern seither immer wieder Prozessbeobachter, sei es ein wenig interessanter geworden, auch wenn von Dynamik keine Rede sein kann. Bei näherer Betrachtung wird aber schnell klar, dass die Staatsanwaltschaft weiter alles tut, damit der Prozess so lange wie möglich dauert. Eine kleine Überschlagsrechnung soll das verdeutlichen: 150 Zeugen und Zeuginnen hat die Anklage aufgeboten, 200 die Verteidigung. Bisher dauert die Befragung eines Zeugen im Schnitt etwa zwei Tage. Verhandelt wird maximal viermal in der Woche, nicht gerechnet Feiertage, Urlaub oder mögliche Krankheiten der Prozessbeteiligten. So kommt man auf, sehr optimistisch geschätzt, auf 200 Verhandlungstage im Jahr. 350 Zeugen mal zwei Tage brauchen 700 Tage. Wenn es so weiter geht, wird der Prozess also mindestens vier Jahre dauern (weil ja schon die Anklageverlesung ein halbes Jahr in Anspruch genommen hat). Hier wird eindeutig Zeit geschunden. Im Fussball gäbe es erst eine Verwarnung und dann den Platzverweis. Aber leider sitzt der einzige Schiedsrichter, der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, weit weg in Straßburg und hat zudem sehr eingeschränkte Möglichkeiten, seine Sanktionen durchzusetzen. Alle politischen Beobachter, mit denen ich in den vergangenen Wochen hier in Moskau die Möglichkeit hatte, über den Prozess zu reden, sind sich einig, dass politisch (wohl von Putin) einfach (noch? warum?) nicht entschieden wurde, was mit Michail Chodorkowskij und seinem Mitangeklagten Platon Lebedew passieren soll.
Weiter dokumentiere ich eine Presseerklärung von Marieluise
Beck (MdB), Ralf Fücks (Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung) und Werner
Schulz (MdEP) anlässlich
ihrer Teilnahme an der Gerichtsverhandlung gegen Michail Chodorkowski
und Platon Lebedew am 2. November 2009 in Moskau:
Politische Justiz in Russland:
Weshalb der Chodorkowski-Prozess auch uns angeht
„Michail
Chodorkowski droht vor Ablauf seiner ersten Haftstrafe von 8 Jahren nun
eine weitere Verurteilung zu mehr als 20 Jahren Haft. Chodorkowski und
sein Partner Platon Lebedew, die im Zuge der Zerschlagung des bis dahin
erfolgreichsten russischen Ölkonzerns Jukos inhaftiert und verurteilt
wurden, sitzen seit sechs Jahren in Lagern und Gefängnissen. Rund 50
weitere ehemalige Mitarbeiter von Jukos wurden ebenfalls mit
Strafprozessen überzogen.
Es
gibt in der europäischen Öffentlichkeit eine große Unsicherheit, wie
dieser Prozess zu bewerten ist. Chodorkowski wird mit Misstrauen
begegnet, weil er in den Jahren des „wilden Kapitalismus“ nach dem
Untergang der Sowjetunion ein Milliardenvermögen angehäuft hat. Nach
der Überzeugung vieler russischer Menschenrechtler sind die gegen ihn
erhobenen Anklagen allerdings ein bloßer Vorwand. Auch aus unserer
Sicht handelt es sich um einen politischen Prozess, mit dem ein Exempel
statuiert werden soll. Die russische Justiz hat erst dann auf Jukos
zugegriffen, als Chodorkowski begann, den Kreml herauszufordern, indem
er offen die liberale Opposition unterstützte, sich gegen die
weitverbreitete Korruption wandte und den Konzern für westliche
Investoren öffnete. Dagegen blieben die Oligarchen, die sich dem Kreml
unterordneten, unbehelligt.
Gleichzeitig
sollen die Strafverfahren nachträglich die Zerschlagung des Konzerns
und die Umverteilung seiner Vermögenswerte an staatlich kontrollierte
Unternehmen rechtfertigen. Die Nutznießer dieser Operation sitzen im
Kreml beziehungsweise inzwischen im „Weißen Haus“ (dem Sitz der
russischen Regierung). Ganz zufällig ist der Putin-Vertraute Setschin
auch Chef des Ölkonzerns Rozneft, des Haupterben von Jukos. Auch
deshalb soll Chodorkowski dauerhaft weggesperrt werden. Er ist
schlichtweg zu gefährlich für die neuen Herren über Staat und
Wirtschaft in Russland.
Während
im ersten Prozess eine Verurteilung ausgesprochen wurde, weil Jukos
Steuern hinterzogen habe, wird nun zum gleichen Sachverhalt ein zweiter
Prozess durchgeführt, in dem Chodorkowski der Diebstahl der gesamten
Ölförderung aus sechs Jahren vorgeworfen wird. Seine Anwälte weisen
darauf hin, dass sich diese Anklagen widersprechen. Woher die hohen
Gewinne von Jukos stammten, wenn doch die gesamte Produktion veruntreut
worden sein soll, bleibt rätselhaft.
Vor
kurzem waren die Vorstandvorsitzenden zahlreicher deutscher Unternehmen
zu Gast bei Ministerpräsident Putin. Es ist nicht bekannt, ob sie nach
Rechtssicherheit in Russland fragten. Wie die Erfahrungen von BP, Shell
und neuerdings auch von IKEA zeigen, müssen auch westliche Unternehmen
immer wieder mit willkürlichen Eingriffen rechnen. Es ist ebenso
kurzsichtig wie beschämend, wenn Vertreter der deutschen Wirtschaft
beflissen über den Schauprozess gegen Chodorkowski und Lebedew
hinweggehen, um sich bei der russischen Regierung nicht unbeliebt zu
machen.
Auch
von der Bundesregierung und der EU-Kommission erwarten wir, dass sie
gegenüber dem Kreml und dem Weißen Haus ihre Besorgnis wegen des
Vorgehens gegen Jukos deutlich machen und auf die Einhaltung
rechtsstaatlicher Verfahren drängen. Nach Lage der Dinge kann das nur
die Einstellung des Verfahrens und die Freilassung der Angeklagten
bedeuten.“