Zum 70 Jahrestag
des 17. September 1939
Erklärung von
Memorial International
23. August – 1.
September – 17. September – diese Datumstriade hat die Namen von zwei
Diktatoren für immer verbunden. Der Hitler-Stalin-Pakt und die ihm folgenden
Ereignisse, der Überfall auf Polen zuerst durch die Wehrmacht und danach die
Rote Armee gehören zu den schändlichsten Seiten der europäischen Geschichte.
Der amoralische
Hitler-Stalin-Pakt war von Anfang an selbst für die bolschewistische Führung
offensichtlich. Es ist kein Zufall, dass die zum Vertrag gehörenden
Zusatzprotokollen geheim waren und ihre Existenz von den sowjetischen
Machthabern über fünfzig Jahre heftigst abgestritten wurde.
Selbst wenn der
Pakt und die Geheimprotokolle nur Papier geblieben wären und keine politischen
Folgen gehabt hätten, wären sie amoralisch geblieben: Das Gespräch über
„Einflusssphären“ und „Interessenssphären“ ist ein Gespräch zweier Raubtiere,
die auf Gewalt setzen und die Freiheit der Völker missachten. Aber der Pakt vom
23. August hatte politische Folgen. Unter diesen Folgen war die Aufteilung
Polens zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion, der Verlust der
Unabhängigkeit für die baltischen Staaten und der aggressive Krieg gegen
Finnland, für den die UdSSR 1939 aus dem Völkerbund ausgeschlossen wurde. Auch
die massenhaften „Säuberungen“ und Deportationen auf den der UdSSR
angeschlossenen Territorien gehören zu diesen Folgen.
Versuche, die
Schuld für diese Verbrechen dem sowjetischen Volk oder, mehr noch, dem heutigen
Russland anzulasten, sind untauglich. Die Bevölkerung der UdSSR hatte keine
Ahnung, dass der so genannte „Nichtangriffspakt“ in Wirklichkeit ein Pakt zur
Aufteilung Osteuropas war. Die sowjetischen Bürger haben weder nach einer
„Ausweitung des Lebensraums“ noch einer Versklavung der Nachbarvölker gestrebt.
Sie haben die Geheimprotokolle weder unterzeichnet noch gut geheißen – sie
wussten schlicht nichts davon. Die Verantwortung für die scharfe politische
Richtungsänderung in Bezug auf Hitlerdeutschland, für den Übergang zur „durch
Blut bekräftigte Freundschaft“ liegt nicht beim Volk sondern bei Stalin und
seinen Kumpanen im Politbüro. Nicht das Volk sondern Stalin war von 1939 bis
1941 gewissenhaft Partner von Hitler. Eben die Völker der Sowjetunion mussten
die Folgen der verbrecherischen Politik Stalins zum Preis von Millionen Leben
und unsäglichem Leid tragen.
Aber es ist die Verpflichtung
Russlands vor sich selbst, vor der Welt und vor zukünftigen Generationen die
stalinsche Außenpolitik zu bewerten und die ganze Wahrheit über sie
aufzudecken.
Alles darüber ist
heute allgemein bekannt und offensichtlich. Trotzdem tauchen in Russland
wundersamer Weise immer mehr Politiker auf, die die Partnerschaft zwischen
Stalin und Hitler zwischen 1939 und 1941 rechtfertigen. Am Vorabend des 70.
Jahrestags des Beginns des Zweiten Weltkriegs gab es in den russischen
Fernsehkanälen, unterstützt von einer ganzen Reihe hochrangiger Politiker, eine
regelrechte Propagandakampagne zur Rechtfertigung des sowjetisch-deutschen
Paktes vom 23. August 1939.
Der Versuch aus
der wirklichen Geschichte ein Glamour-Bild zu machen reicht vielleicht gerade
so aus, innenpolitische Ziele zu erreichen. Im Ausland ruft dieses Bild
gerechtfertigten Unwillen aus. Je länger die russische Staatsführung sich davor
drückt, die Vergangenheit aufrichtig zu bewerten, umso stärker wird das
Misstrauen gegenüber Russland.
Vor diesem
Hintergrund begrüßen wir, dass Premierminister Putin in seinem jüngst in der
polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza veröffentlichten Artikel den Hitler-Stalin-Pakt
„amoralisch“ genannt hat. Allerdings wurden in diesem Artikel die geheimen
Zusatzprotokolle und die darauf folgenden für die Völker in Osteuropa
tragischen Ereignisse nicht erwähnt. Das wird kaum zur Stärkung des Vertrauens
zwischen Russland und seinen Nachbarn beitragen.
Die Halbwahrheit
ist immer heimtückisch – und in diesem Fall ist das beleidigender als eine
direkte Lüge.
Gerade wegen des
gegenseitigen Misstrauens gelang es vor dem Zweiten Weltkrieg nicht ein System
kollektiver Sicherheit in Europa aufzubauen.
Im Unterschied
zur Situation vor 70 Jahren beruht das heutige Misstrauen vor allem auf
unterschiedlichen Bewertungen der Geschichte. Dieses Misstrauen ganz relativ
einfach überwunden werden: Es reicht, die volle Wahrheit zu sagen und die Archive
in allen Ländern mit Materialien aus der Vorkriegsepoche für alle Forscher zu
öffnen.
Bevor das nicht
getan wird, werden alle Aufrufe zum Aufbau eines neuen kollektiven
Sicherheitssystems, darunter in erster Linie die von Russland ausgehenden, nicht
ernst genommen werden.
16. September
2009