Memorial-Aktivisten ausgespäht – Ermittlungen gegen Oleg Orlow eingestellt – Stalin-Enkel beleidigt

Heute mal ein kleines Potpourri, in dem, sozusagen als Leitmotiv, in jeder Strophe unbequeme Memorial-MitarbeiterInnen eine Rolle spielen.

Zuerst ein unter Umständen ganz und gar nicht harmloses Detektivspiel. Nach Angaben von Oleg Orlow, Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial, haben Unbekannte haben, die privaten Lebensumstände von führenden Memorial-Aktivisten auszuspähen. Sowohl im Treppenhaus in dem Orlows Wohnung liegt als auch im Haus in dem Alexander Tscherkassow, ebenfalls Vorstandsmitglied von Memorial, lebt, tauchten Männer auf, die sich Nachbarn als „Steuerinspektoren“ vorstellten und Informationen über Orlow und Tscherkassow suchten. Insbesondere interessierte sie, ob Orlow und Tscherkassow in den Wohnungen, in denen sie gemeldet sind, auch wirklich leben. Angesichts des bis heute strengen Meldesystems ist das nicht selbstverständlich, da bei Umzügen die umständliche bis unmögliche, zumindest aber mit erheblichen bürokratischen Unbillen verbundene Ummeldung oft vermieden wird. Nachfragen bei den für die jeweiligen Stadtteile Moskaus zuständigen Steuerbehörden ergaben, dass deren Mitarbeiter grundsätzlich keine „Hausbesuche“ machen. Bei Memorial ist man sehr besorgt über diese Nachforschungen, zumal sowohl Tscherkassow als auch Orlow Zeugen im Fall der ermordeten Memorial-Mitarbeiterin Natalja Estemirowa sind.

Mit Estemirowa hat dieser zweite kleine Absatz zu tun. Direkt nach dem Mord an Natalja Estemirowa hatte der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow Anzeige gegen Oleg Orlow erstattet (siehe Blogpost Kadyrow verklagt Memorial wegen angeblichen Rufmords). Orlow hatte gesagt, Kadyrow sei „Schuld“ an dem Mord. Der tschetschenische Präsident fühlte sich beleidigt. Nun hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren stillschweigend eingestellt. 

Die dritte kurze Anmerkung hat zwar Memorial nicht als Hauptperson, wohl aber als Anlass. Seit etwa einem Jahr bringt die Nowaja Gaseta allmonatlich eine von Memorial inhaltlich gestaltete Beilage, die „Prawda Gulaga“, also „Wahrheit über den Gulag“. Dort findet sich entsprechend viel Schlechtes über die Hauptperson dieser Geschichte, über Stalin, während Putin den Namen des Siegers im Großen Vaterländischen Krieg öffentlich nicht führt (dafür wird er seit einigen Tagen wieder höchst öffentlich in einer Inschrift in der kathedralengleichen Eingangshalle der Moskauer U-Bahn-Station „Kurskaja“ gepriesen – historische Wahrheit sei die Wiederherstellung dieser unter Chrschtschow Anfang der 1960er Jahre getilgten Inschrift, hieß es aus der Moskauer Stadtverwaltung dazu)

In der „Prawda Gulaga“ wird nun unter anderem seit einiger Zeit für einen, wenn auch verspäteten Gerichtsprozeß gegen Stalin geworben. Endlich soll Gerechtigkeit walten. All diese Insinuationen Großvater gegenüber sind nun einem Enkel des Sowjetdiktators zuviel geworden. Er verklagte die Nowaja Gaseta auf Schmerzengeld und Unterlassung. Großvater sei doch ein so guter Hirte des Sowjetvolks gewesen und überhaupt kein schlechter Mensch. Und wo wären alle diese Schmäher heute ohne ihn, den großen Führer? Richtig! Unterste Untertanen des Großdeutschen Reiches, wenn überhaupt noch am leben. Am 1. September sollte der erste Verhandlungstag im Moskauer Basmannyj Gericht sein (dort wurde auch Chodorkowskij zu seinen bisher acht Jahren verurteilt). Arsenij Roginskij, Vorsitzender von Memorial, stand als allseits anerkannter Experte bereit. Doch das Gericht vertagte sich erst einmal bis Mitte September. Schwierige Sache das.

 


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