„Diebe im Gesetz“

Ende Juli tauchten in der deutschen Presse einige Artikel über einen Prozess gegen eine „russisch-georgische Mafia“ vor dem Landgericht Lüneburg auf (z.B. in Die Zeit). Vor Gericht wurde die Verbrecherbande „Diebe im Gesetz“ genannt, was in den meisten Artikeln so auch wiederholt wurde. Die sogenannten „Diebe“, so sie die deutsche Presse zu Kenntnis nehmen, dürften sich gut amüsiert haben. Oder sie fühlten sich geschmeichelt. Denn „Dieb im Gesetz“ ist ein Rang, ein Titel oder eine Art Dienstgrad, aber kein Eigenname.

Nun will ich die Arbeit von Gericht und Journalisten nicht über Gebühr schlecht machen. Es ist nicht so einfach, sich in der russischen Verbrecherwelt und im russischen Verbrecherjargon zurecht zu finden. Deshalb möchte ich hier versuchen, ein paar Hinweise dazu zu geben. Das ist auch deshalb nützlich, weil manches davon – mehr die „Begriffe“ als die Regeln (aber auch sie!) – seit einiger Zeit in wachsendem Maße Eingang in den bürgerlichen russischen Alltag gefunden haben (finden).

Zuerst ist aber eine kleine Unterscheidung nötig. Es gibt im Russischen den Verbrecherjargon und es gibt die sogenannten Mutterflüche (russisch: mat’). Beide haben erst einmal wenig miteinander zu tun, obwohl die sozialen Gruppen, die sich vorzüglich des Verbrecherjargons bedienen, auch mit Inbrunst viele Mutterflüche ausstoßen. Mutterflüche dienen hier oft als weitgehend sinnfreie Füllworte die in jeden Satz in großer Menge eingestreut werden. Mutterflüche bestehen aus unendlichen Variationen einer recht kleinen Gruppe von Worten, die alle den menschlichen Genitalbereich bezeichnen. Sie sind grob (viel gröber als deutsche Schimpfworte), gelten in „zivilisierter“ Öffentlichkeit als zutiefst unanständig und sind seit einigen Jahren gar gesetzlich verboten. Dennoch sind sie allgegenwärtig und ich würde niemandem, wirklich niemandem glauben, der oder die behauptet, sie nie, auch nicht gelegentlich und spontan zu nutzen (und sei es in Gedanken). Eingang in den öffentlichen Raum haben Mutterflüche oft durch Verballhornungen gefunden, bei denen aber trotzdem der Ursprungsfluch für jeden und jede ohne Nachzudenken hörbar ist.

Der Verbrecherjargon dagegen bezeichnet Personen, Gegenstände und Handlungen im Zusammenhang mit krimineller sozialer Interaktion. Während die Mutterflüche im Deutschen keine Analogien haben, ist der Verbrecherjargon durchaus mit dem im Spätmittelalter im Deutschen entstandenen Rotwelsch vergleichbar. Seine heute vorherrschende Form erhielt er Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts. Viele Worte des Verbrecherjargons kommen aus dem Jiddischen, andere haben turksprachige Ursprünge. Aber auch aus dem Russischen haben sich die Ganoven und Diebe bedient. Ich nenne hier kurz nur ein paar, die für das Verständnis der „Diebe im Gesetz“ nützlich sind und offenbar auch im oben erwähnten Prozess eine Rolle gespielt haben: Frajer, schuler, loch, basar und schodka.

Ein schuler ist ein Gauner, ein Falschspieler, ein Betrüger, also jemand, der andere unfair (nach bürgerlichen moralischen Maßstäben) austrickst. Schon in der klassischen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts kommt das Wort vor, oft im Zusammenhang mit dem Kartenspiel. Basar ist das, was man angerichtet, versprochen oder auch abgesprochen hat. Basar kann ebenso ein (ernsthaftes) Gespräch sein wie eine Auseinandersetzung. In der Alltagssprache wird heute noch oft die Redewendung „otwetschat sa basar“ benutzt, was bedeutet, für eine Sache oder Handlung Verantwortung zu tragen.

Eine schodka (sprich s-chodka) ist eine Zusammenkunft oder Versammlung im Verbrechermilieu. Das gleiche Wort, schod, bezeichnet aber auch die Dorfversammlung im mir, der traditionellen Dorfgemeinschaft. Auch die Kosaken bezeichneten ihre Versammlungen auf unterer Ebene als schod. Heute wird es oft umgangssprachlich für Treffen und Versammlungen aller Art benutzt. Bei einer schodka treffen sich die „Diebe im Gesetz“, um die Angelegenheiten der „Diebes“-Welt zu beraten. Bevor es nun weitergeht, muss erklärt werden, was eigentlich ein „Dieb“ ist. „Dieb“ war (und ist mitunter noch) eine Selbstbezeichnung derer, die sich dem Verbrecherstatut verschrieben hatten (und damit verpflichtet waren, es einzuhalten). Ursprünglich waren das tatsächlich im Wortsinn Diebe (russisch: wor). Später umfasste der Begriff auch andere Verbrecher. Das Gegenteil zum „Dieb“ ist der frajer. Dieses Wort bezeichnet alle Nicht-Diebe. Ein frajer ist für „Diebe“ Freiwild. Er kann bestohlen, betrogen, ausgeraubt oder auch umgebracht werden. Ihm gegenüber gelten keine Regeln, ohnehin nicht die des staatlichen Gesetzes, von denen der „Dieb“ frei ist, auch nicht der verbrecherische Ehrenkodex, der das Verhältnis der „Diebe“ untereinander streng reglementiert. Der Ehrenkodex grenzt zudem die „diebischen“ Interessensphären untereinander ab und dient der Konfliktschlichtung innerhalb der „Diebes“-Welt.

Die allermeisten frajer sind gleichzeitig lochy (mitunter und zunehmend werden diese beiden Begriffe synonym verwandt, wobei der loch heute mehr im Alltag genutzt wird, während der Gebrauch von frajer zurückgeht). Ein loch ist ein Opfer, ein Looser. Jemand, der sich leicht übertölpeln lässt, oft dumm und unvorsichtig ist. Kurz: Ein loch ist das ideale und ewige Opfer (das scheint übrigens auch im Lüneburger Prozess eine größere Rolle gespielt zu haben).

Damit komme ich zu den „Dieben im Gesetz“. Im oben bereits erwähnten Zeitartikel zum Prozess steht dazu: „Die ‚Diebe im Gesetz‘, wie sie sich auch selber nennen, sind eine geschlossene Gesellschaft, die während der Stalin-Zeit in sowjetischen Gefangenenlagern entstand, damals gegen die Herrschenden agierte und sich im Untergrund organisierte.“ Da ist leider einiges durcheinander geraten. Wie oben bereits angedeutet, sind „Diebe im Gesetz“ keine Gesellschaft oder Organisation, sondern waren eine Art Funktionselite innerhalb der Verbrecherwelt. Man muss sich das für die Zeit der Sowjetunion wie eine Konföderation von Verbrecherbanden vorstellen, ähnlich der italienischen Mafia, aber ohne Familienverbindungen. Im Gegensatz hierzu waren die sowjetischen Verbrecherorganisationen eher so etwas wie Ersatzfamilien. Die riesige Zahl der Kriegs- und Bürgerkriegswaisen bildeten ihr wichtigstes Rekrutierungsreservoir.

Zum Zweiten ist diese Struktur seit dem Ende der Sowjetunion weitgehend zerfallen. Diejenigen, die sich heute „Diebe im Gesetz“ nennen, sind kaum mehr als das, was man als Emporkömmlinge bezeichnen könnte. Sie übernehmen einen eingeführten und wohlklingenden Titel, ohne aber die damit einhergehende Autorität zu haben oder auch nur annähernd ähnliche Funktionen ausüben zu können wie die, so muss man sagen, echten „Diebe im Gesetz“. Dieser Zerfall, der bisher nicht wirklich untersucht ist, hat, wie ich vermute, etwas mit der Öffnung der ehemals abgeschlossenen Sowjetunion zu tun. Das organisierte sowjetische Verbrechen hat sich gleichzeitig provinzialisiert und internationalisiert. Zudem sind in fast allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion Teile der organisierten Kriminalität bis in höchste politische Ämter aufgestiegen und haben die Grenze zwischen Verbrecherwelt und dem Rest verwischt. Dadurch verschwanden nicht nur die „Diebe im Gesetz“ als Institution (auch sie wurden vermischt, provinzialisiert und internationalisiert), sondern auch der lange geltende „Diebeskodex“ verlor in der Unterwelt einen großen Teil seiner Bedeutung.

Diesen Kodex bezeichnet übrigens ein weiteres Wort des Verbrecherjargons, die sogenannten ponjatija. Die ponjatija (wörtlich ist das die Mehrzahl des russischen Wortes für „Begriff“ oder „Vorstellung“) stehen im Gegensatz zum Gesetz, also zum kodifizierten Recht. „Schit po ponjatijam“, also „Leben nach den Begriffen“ bezeichnet heute, auch im Alltag, nicht kodifiziertem Recht, sondern anderen, informellen Regeln und Abmachungen zu folgen. Vieles im russischen Alltag funktioniert heute so, auch und nicht zuletzt in der Politik.

In der Sowjetzeit seit Stalin (obwohl die Wurzeln weit in die Zarenzeit zurückreichen) waren die „Diebe im Gesetz“ so eine Art „Verfassungsgericht“ der Verbrechergesellschaft, das über die Einhaltung der ponjatija zu wachen hatte. Sie waren aber gleichzeitig auch eine Art „oberstes Strafgericht“, weil sie ihre Autorität über Bestrafungsurteile ausübten. Alle echten „Diebe“ (also diejenigen, die po ponjatijam (etwa: nach Diebesbegriffen) lebten und in die Diebesgemeinschaft aufgenommen worden waren) waren verpflichtet, diese Urteile umzusetzen. Dabei galt der (auch von der Mafia und anderen Geheimbünden bekannte) Grundsatz „einmal Dieb, immer Dieb“. Ein Austritt aus der „Diebes“-Gemeinschaft war unmöglich. Nach dem Ende der Sowjetunion zerfiel diese Struktur etwa so schnell, wie die bis dahin lebenden „Diebe im Gesetz“ starben.

Heute gibt es niemanden in der postsowjetischen Verbrecherwelt mehr, der noch die Autorität der „Diebe im Gesetz“ hätte. Wer sich also selbst so bezeichnet oder von anderen so bezeichnet wird, ist gewissermaßen ein Hochstapler, maximal ein kleinerer oder größerer Gangsterboss. Das lässt sich schon an einer Zahl erkennen, die man immer wieder hört und die auch im Lüneburger Prozess genannt wurde. Demnach soll es heute „weltweit etwa 1000 Diebe im Gesetz“ geben. Vielleicht gibt es heute so viele Verbrecher im postsowjetischen Raum, die sich so nennen und eine gewisse Autorität in kriminellen Kreisen haben (eben das, was man auch in Deutschland eine „kriminelle Autorität“ nennt). Ob die Zahl stimmt, weiß ich nicht. In der Nachkriegssowjetunion waren es aber nie mehr als 13 bis 15 „Diebe im Gesetz“. Das hatte schon praktische Gründe. Wie sonst hätte ein System funktioniert sollen, bei dem sich die „Diebe im Gesetz“ regelmäßig zu den schon beschriebenen schodki, zum Gerichthalten treffen mussten? Da immer einige der „Diebe im Gesetz“ im Lager waren (oft sogar eine Mehrheit), ging das nur in den sogenannten „Etappengefängnissen“, also jenen sechs oder sieben großen Gefängnissen, in die Gefangene immer wieder gebracht wurden, um dann auf die eigentlichen Straflager weiter verteilt zu werden, in den sie die Haft abbüßen mussten.

Das berühmteste diese Etappengefängnisse ist das bis heute Dienst tuende Wladimirer Zentral in der etwa 200 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Bezirksstadt Wladimir. Viele Gulaghäftlinge, aber auch spätere Gefangene, die von ihrer Gefangenschaft berichteten (berichten konnten), haben davon Zeugnis abgelegt. Allein wegen der Schwierigkeit also, genügend „Diebe im Gesetz“ für eine schodka an einem Ort im wahrlich ausgedehnten sowjetischen Lagerarchipel zusammen zu bekommen, wäre das logistisch bei einer größeren Anzahl schwierig, bei einer wirklich großen Anzahl aber unmöglich gewesen. Nicht umsonst besteht auch das in Freiheit tagende Bundesverfassungsgericht (ebenso wie andere obere und oberste Gerichte dieser Welt) aus einer durchaus begrenzten Anzahl von Richter/innen. Das Rechtsprechen soll ja funktionieren.

Die klassischen „Diebe im Gesetz“ hatten zudem einen recht rigiden (Moral-)Kodex zu befolgen (der Teil der ponjatija ist). Sie glichen ein wenig einem Mönchsorden, dem vom Diebesvolk erst und eben wegen seiner Weltenferne und Askese die notwendige Autorität und Legitimität zuerkannt wurde, um über die ponjatija zu wachen. Wichtigste Regel für einen „Dieb im Gesetz“ war der Verzicht auf jeglichen privaten Besitz (hier dürfte der gewaltige Unterschied zu den sich heute so Nennenden schnell deutlich werden). Damit sie ausreichend neutral über den Diebeskodex wachen konnten, wurden sie ausschließlich aus dem obschtschak versorgt. Der obschtschak, ebenfalls ein Wort aus der Diebessprache, das Eingang in die russische Alltagssprache gefunden hat und heute zum Beispiel auch für eine gemeinsame Urlaubskasse verwendet wird, war (und ist es mitunter heute noch) eine Gemeinschaftskasse, der alle Mitglieder der Diebeswelt eine Art Steuer zu verrichten hatten. Aus ihr wurden einerseits die „Diebe im Gesetz“ versorgt, andererseits diente sie als eine Art Sozialkasse für in Not geratene Mitglieder der Diebesgemeinschaft oder ihre Familien. Aus ihr bekamen auch Diebesangehörige Zuwendungen, solange ihre Väter oder Ehemänner im Lager saßen und folglich nur noch sehr eingeschränkt ihrem Beruf nachgehen konnten.

„Diebe im Gesetz“ durften übrigens, auch hier Mönchen ähnlich, keine Familien haben. Sie mussten sich ganz der Diebesgemeinschaft hingeben. Wichtiger noch war vielleicht, dass den Behörden oder auch anderen Verbrechern bei Konflikten kein Druckmittel gegeben werden sollte, weder Frau noch Kinder konnten so bedroht werden. Auch Gewalttäter disqualifizierten sich als „Diebe im Gesetz“. Schon wer einen bewaffneten Raubüberfall auf dem Kernholz hatte, schied aus. Was aber nicht heißt, dass die „Diebe im Gesetz“ nun besonders zartfühlend gewesen wären. Der Ehrenkodex sah als Strafe für schweres diebisches Fehlverhalten auch den Tod vor. Und diese Strafe wurde nicht selten verhängt und alle „Diebe“ waren verpflichtet, sie auch zu vollstrecken. Besonders sanktionieren die ponjatija jegliche Zusammenarbeit mit dem sozusagen natürlichen Feind, der Polizei oder, im Verbrecherjargon, den menty. Das ist erneut ein Wort, das heute überall im Alltag benutzt wird, etwa in der Bedeutung, die „Bullen“ für Polizisten in Deutschland hat.

Doch all das ist eine verlorene Welt. Oder besser, eine in Auflösung begriffene. Sie ist nicht völlig verschwunden. Einer ihrer Teile lebt in den „1000 Dieben im Gesetz“ weiter, die heute nicht nur im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch darüber hinaus ihr Unwesen treiben sollen. Ein anderer Teil hat sich tief in die russische (und auch andere postsowjetische) Politik und Gesellschaft geschlichen. Schon längst funktioniert in Russland vieles po ponjatijam, auch weil Recht und Gesetz nur sehr schlecht funktionieren. Informelle Absprachen sind oft weit wichtiger als gesetzliche Regeln. Vor allem aber haben sich Sprache und Kodex der Verbrecherwelt als Folklore erhalten. Öffentliches Aushängeschild dafür ist ausgerechnet Präsident Putin, der sich – oft, aber nicht immer mit einem zwinkernden Auge – beim Verbrecherjargon bedient und damit seine Volksverbundenheit zeigt. Meist johlt das Publikum oder nickt zumindest anerkennend und findet, der Präsident habe den „langweiligen und politkorrekten Liberalen“ und dem Westen wieder einmal gezeigt, dass er (im Gegensatz zu denen) ein echter Mann ist, ein pazan (noch so ein diebisch-bürgerliches Doppelwort), also ein ganzer, junger Kerl, der sich auch in einem Faustkampf auf dem Hinterhof durchsetzen kann.


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