Seit 2005 trägt die Universität in Kaliningrad den Namen des Königsberger Philosophen Immanuel Kant. Damals feierte man den 750. Jahrestag der Gründung Königsbergs. Die Umbenennung fand in Anwesenheit von Präsident Wladimir Putin und Bundeskanzler Gerhard Schröder statt. Freilich war es schon seinerzeit in Russland nicht so ganz unumstritten, was da eigentlich gefeiert werden soll. Denn Königsberg gab es ja schon seit 60 Jahren nicht mehr. Seit 1945, seit der Eroberung durch die Rote Armee, heißt die Stadt Kaliningrad. Und auch physisch ist von Königsberg, zumindest im Stadtzentrum, nicht viel geblieben. Die Ruine des Königsschlosses wurde 1968 gesprengt. Die alte, mittelalterliche Struktur war längst dem Straßenbild einer sowjetischen Neustadt gewichen. Nur zwei repräsentative Gebäude haben das große Auf- und Wegräumen alles Deutschen überstanden: die Börse und der Dom. Beide zeugen von der Janusköpfigkeit der Stadt und den Schwierigkeiten der Geschichte, von denen hier die Rede sein soll.
Die Börse beherbergt heute das regionale Kunstmuseum. Die eher bescheidene Sammlung nimmt vor allem zwei Säle im ersten Stock ein. Einer zeigt das alte Königsberg, meist in Werken deutscher Malerinnen und Maler. Der andere dagegen enthält Werke sowjetischer und einiger russischer Künstler, aus der Zeit nach 1945. Und so ist es fast überall im Gebiet Kaliningrad, das aus dem nördlichen Teil des früheren Ostpreußens hervorgegangen ist. Die Oberfläche, das auf den ersten Blick Sichtbare, die Gegenwart hat sowjetische und russische Wurzeln. Aber wird nur ein wenig daran gekratzt, kommt eben sehr viel deutsche Vergangenheit zum Vorschein.
Der Königsberger Dom (und er ist eben der Königsberger Dom, nicht ein Kaliningrader) ist keine Kirche mehr. Er ist ein Museum und eine Konzerthalle. Mitunter bis zu drei Orgelkonzerte am Tag finden in ihm statt. Überlebt hat er, so sagt zumindest die Legende, wohl wegen Kant. Weil dessen Grab an der Nordwestecke des riesigen Backsteinbaus liegt, sei er dem Sprengungsschicksal des einst gegenüber, am anderen Ufer der Pregel gelegenen Königsschlosses entkommen, wird in Kaliningrad erzählt. Erst nach dem Ende der Sowjetunion wurde die Kirchenruine dann wiederhergerichtet und bildet nun so eine Art Zentrum der Stadt (wenn auch kein Stadtzentrum im eigentlichen Sinn). Auf jeden Fall aber ist der Dom das wichtigste Touristenziel der Stadt.
Dort, wo einst das Königsschloss stand (und nach dem Krieg seine Ruine), dem Dom gegenüber auf einer Anhöhe, steht heute übrigens wieder eine Ruine, eine Bauruine. In guter alter, imperialer Landnahmetradition sollten die Sowjets genau dort tagen, wo sich einst die preußischen Könige betteten, wenn sie in Königsberg weilten. Doch der nach der Sprengung begonnene Bau stand unter keinem guten Stern. Die sowjetischen, später auch russischen Bauherren kamen mit der komplizierten Statik auf sumpfigem Grund und wohl auch den ausgedehnten Kellergewölben nicht zurecht und so blieb das „Haus der Sowjets“ bis heute unvollendet. Auch das, ein sehr haptisches Symbol der Kaliningrader Schizophrenie.
Überall in der Stadt, auf der nahen Kurischen Nehrung, in den Seebädern an der Ostseeküste, auf dem Flughafen, gibt es bedruckte T-Shirt und Kapuzenpullis zu kaufen, die die Vergangenheit hochleben lassen. Auf einigen steht „Königsberg“, auf anderen Kaliningrad. Einige huldigen der Baltischen Flotte als „Stolz Russlands“ oder der Roten Armee, während daneben in Sütterlinschrift Ritter vom Deutschen Orden mit Kreuzstandarte für Königsberg kämpfen. Und auch oder vielleicht gerade weil Immanuel Kant so populär ist. Eines der meistverkauften T-Shirts bekennt: „Ich habe Kant nicht gelesen. Stimme ihm aber zu!“
Also zurück zu Kant. Die Umbenennung der Universität vor einem guten Jahrzehnt geschah nicht aus dem hohlen Bauch heraus. Die Exklave Kaliningrad jongliert schon länger mit ihrer exponierten Lage und der alten Vergangenheit, die so gar nicht zur jüngeren Vergangenheit passen will. Wie viele Exklaven hat die Frage der Bindung mit dem Mutterland mehr Bedeutung als in anderen Regionen. Auf der einen Seite gibt es in der Exklave das lebenswichtige Interesse enger Interaktion mit dem umgebenden Ausland. Auf der anderen Seite zieht genau das oft den Verdacht des Zentrums auf sich, die Exklave wolle oder könne sich vom Mutterland entfernen. Für das Zentrum ist das auch eine ökonomische Frage. Die Einbindung der Exklave in eine internationale regionale Wirtschaft ist weit billiger als die ständige Dotation aus dem Mutterland. Gleichzeitig kann sie aber auch die Bindung an das Zentrum schwächen.
In Kaliningrad zeigt sich dieses strukturelle Problem noch stärker als anderswo. (Fast) Alle Menschen, die heute hier leben, haben ihre physischen und kulturellen Wurzeln, anderswo. Das einzige, was sie wirklich eint, ist die Nachkommenschaft des großen und erlittenen Sieges gegen das nationalsozialistische Deutschland, als dessen gerechte Trophäe eben das Land empfunden wird, auf dem sie nun leben. Entsprechend hat die Erinnerung an Eroberung Königsbergs, die Erinnerung an die dabei getöteten sowjetischen Soldaten, die Erinnerung an ihre Heldentaten eine besondere Stellung in der Region.
Dieses Land, das da 1945 erobert wurde, ist aber kein Neuland, wie es etwa Michail Scholochow für die russische Besiedlung der südrussischen Steppe beschrieben hat (für die das zwar auch nicht vollständig zutraf, wenn hier zur Zeit der russischen Eroberung auch vor allem Nomaden lebten, die wenig physisch Bleibendes und kaum Steinernes hinterließen). Auf Schritt und Tritt treffen die heutigen Bewohnerinnen und Bewohner der Region Kaliningrad auf Zeugnisse derer, die vor ihnen hier waren. Viele Menschen versuchen, diese lange, wenn auch eher fremde Vergangenheit mit ihrer viel kürzeren, dafür aber eigenen zu verbinden. Insofern war die Umbenennung der Universität 2005 in Staatliche Immanuel-Kant-Universität (und inzwischen in Staatliche Baltische Immanuel-Kant-Universität) und Putins Anwesenheit beim Festakt kein Zufall, sondern auch ein Versuch des Moskauer Zentrums, diese Sehnsucht nach einer zusammenpassenden regionalen Vergangenheit (oder, wie heute oft gesagt wird, Identität), in aus Sicht des russischen Zentralstaats akzeptable, also nicht sezessionistische Bahnen zu lenken.
So hätte man es lassen können. An den Namen Kant für die Universität, hatten sich alle gewöhnt. Jedenfalls hat sich kaum jemand in den vergangenen Jahren darüber wirklich aufgeregt. Nun ist einigen besonders nationalistisch gesinnten Leuten in Moskau, darunter dem Metropoliten Tichon (das ist ein selbst nach Maßstäben der russisch-orthodoxen Kirche ein sehr konservativer Mensch, der in der Öffentlichkeit immer wieder als „Beichtvater“ Putins bezeichnet wird) und dem kaum weniger konservativen Kulturminister Wladimir Medinskij, seines Zeichens auch Vorsitzender der halboffiziellen Militärisch-Historischen Gesellschaft, eingefallen, die patriotischen Gefühle der Menschen in Russland durch eine Umfrageaktion schärfen zu wollen. Gemeinsam mit der vom Kreml kontrollierten Gesellschaftskammer und der Russischen Geographischen Gesellschaft (deren Präsident Verteidigungsminister Schojgu und deren Kuratoriumsvorsitzender Präsident Putin sind) haben sie eine Abstimmung initiiert, mit deren Hilfe für 47 große russische Flughäfen neue Namen gesucht werden sollen. Zur Auswahl stehen auf einer Website historische Persönlichkeiten. Die staatliche Fluglinie Aeroflot verteilt Fragebögen auf ihren Inlandsflügen. Die vielen Männer (und weniger Frauen) reichen von Schriftstellern über Wissenschaftler und Naturforscher und Ingenieuren bis zu zahlreichen Militärführern und Kriegshelden. Politiker und Politikerinnen gibt es nur wenige und wenn, dann sind sie schon seit mindestens 100 Jahren tot.
Für Kaliningrad nun gibt es die Wahl zwischen dem General Iwan Tschernjachowskij, der den Sturm Königsbergs im April 1945 hätte befehligen sollen, aber vorher bei Kämpfen schon in Ostpreußen tödlich verwundet wurde, dem Marschall Alexander Wassiljewskij, der von Tchernjachowskij das Kommando übernahm und den Sturm Königsberg vom 6. bis zum 9. April 1945 befehligte, der Peter-der-Große-Tochter und Zarin Jelisaweta Petrowna, deren Truppen 1758 im Siebenjährigen Krieg Ostpreußen und Königsberg eroberten, und eben Immanuel Kant. Schnell ging Kant mit großem Abstand in Führung. Nun war die Aktion aber zur Stärkung patriotischer Gefühle für das ganze große Russland bestimmt, nicht, um den lokalpatriotischen Stolz der zusammengewürfelten Kaliningrader zu befriedigen. Für viele russische Nationalisten, von denen es heute sehr viele gibt und die sich im Überlebenskampf mit der (vor allem westlichen) Welt fühlen, ist das offenbar unerträglich. In Kaliningrad wurden das Kant-Denkmal vor der Universität und das Kant-Grab am Dom mit Farbe bespritzt und Kant selbst auf Flugblättern als „Verräter an der russischen Erde“ geschmäht. Alle, die einen Flughafen in seinen Namen wollten, hieß es wenig originell weiter, seien Vaterlandsverrätern.
Ein Duma-Abgeordneter namens Marat Barijew aus dem fernen Tatarstan nannte es „unpatriotisch“, wenn der Flughafen nach Kant benannt würde, und schlug eine Bresche für den Marschall Wassiljewskij, der von der Wolga stammte. Der Kommandierende der im Hafen Baltijsk (dem ehemaligen Pillau) unweit von Kaliningrad stationierten Baltischen Flotte, der Vize-Admiral Muchametschin ging noch weiter. Er hielt eine kleine Rede vor seinen zum Appell aufmarschierten Untergebenen, die hier, ihrer pittoresken Eigenschaften ebenso wegen wie der Genauigkeit ihrer Aussagen, auszugsweise zitiert werden soll. Es gebe vier Kandidaten, sagte der Vize-Admiral. „Das sind Jelisaweta Petrowna (…), irgendein nicht unbekannter dort Immanuel Kant und zwei Heerführer. Alle sagen: Kant, Kant! (…) Dieser Mensch, der sein Vaterland verraten hat, der sich erniedrigt hat und auf den Knien gerutscht ist, damit sie ihm ein Lehramt in der Universität gaben (…). Er hat irgendwelche unverständlichen Bücher geschrieben, die niemand der hier Stehenden gelesen hat und niemals lesen wird. Und wir, als Soldaten (…) der Baltischen Flotte, müssen uns daran erinnern, wem wir es verdanken, dass wir uns jetzt hier überhaupt befinden. Dank wessen es die Baltische Flotte in Baltijsk gibt und unsere Schiffe in Kaliningrad stehen.“ Dann rief er die Soldaten und Matrosen auf, für Wassiljewskij zu stimmen.
Auch die Polizei blieb nicht untätig. Das notorische Zentrum „E“, eine spezielle Polizeieinheit zum Kampf gegen den Extremismus, lud einen Studenten der Kant-Universität zum Verhör vor, der bei der Stadtverwaltung eine Mahnwache zu Kants Verteidigung anzumelden versuchte (die selbstverständlich nicht genehmigt wurde). Da die Zentren „E“ überall politische Verschwörungen wittern, wollten die Polizisten vor allem wissen, wer den jungen Mann denn nun zu seinem Tun angestiftet habe. Eigensinn, wie ihn viele Kaliningrader in dieser Frage zeigen, ist in diesem Denken nicht vorgesehen.
Anfang dieser Woche wurde die Abstimmung abgeschlossen. Kant hat nicht gewonnen. Er wurde sogar nur Dritter. Allerdings konnte sich auch der Heerführer Wassiljewskij nicht durchsetzen. Er wurde Zweiter. Gewonnen hat die Zarin Jelisaweta Petrowna. Die Abstimmungsergebnisse können auf einer speziellen Website eingesehen werden. Für die Neutralität der Ergebnisse gibt es keine Gewähr. Es fällt aber auf, dass eher die Zivilisten als die Militärs gewonnen haben. Und dass der regionale Bezug eine große Rolle gespielt hat. Schon die Regionalwahlen im September haben gezeigt, dass die Zentralisierung des russischen politischen Lebens an eine Grenze stößt.