Offener Brief
Was auf dem Spiel steht:
In der Ukraine geht es um die Zukunft Europas
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Außenminister,
vom Stellvertreterkrieg zur offenen Intervention: die nächste Eskalationsstufe im Krieg gegen die Ukraine hat begonnen. Inzwischen operieren schwer bewaffnete Einheiten der russischen Armee im Süden der Ukraine. Nächstes Ziel dieser Offensive scheint Mariupol, die drittgrößte Stadt im Donbass, ein bedeutender Hafen und Industriestandort. Das wäre ein großer Schritt auf dem Weg zu einer Landbrücke zwischen Russland und der Krim. Tausende von Zivilisten sind bereits aus Mariupol geflohen.
Jetzt ist eingetreten, was schon seit Wochen absehbar war. Während Präsident Putin seinen „Friedenswillen“ bekundet und sein Außenminister Lawrow treuherzig versichert, Russland habe „kein Interesse an der Zerstörung der Ukraine“, verstärkt der Kreml seinen Zugriff auf die Ostukraine. Auf schweres Kriegsgerät und russische Söldner folgen jetzt reguläre Truppen.
Das Signal ist klar: Putin ist nicht bereit, die Ostukraine aus der Hand zu geben. Er schlägt die Tür für eine „diplomatische Lösung“ zu. Wird Europa zusehen, wie ein Staat zerstört wird, der sich für die europäischen Werte entschieden hat? Werden wir hinnehmen, dass die russische Führung die europäische Friedensordnung aus den Angeln hebt? Der Westen hat sich mit der Zerstückelung
Georgiens arrangiert, er hat die Amputation Moldawiens hingenommen – wird er auch die Ukraine opfern, um dem Konflikt mit der russischen Führung aus dem Weg zu gehen?
Die Bundesregierung hat bisher hartnäckig vermieden, von einem Krieg Russlands gegen die Ukraine zu sprechen. Jede realistische Politik beginnt aber damit, die Dinge beim Namen zu nennen. Die EU darf keinen Zweifel daran lassen, dass die Aggression gegen einen Staat, mit dem sie ein Assoziationsabkommen geschlossen hat, einen hohen politischen und ökonomischen Preis kosten wird. Die Sanktionen gegen Russland müssen ausgeweitet, die Unterstützung für die Ukraine auf allen Ebenen verstärkt werden. Dazu gehört auch groß angelegte Hilfe für die vom Krieg betroffenen Menschen, die Sicherung der Energieversorgung der Ukraine und verstärkte Finanzhilfen, um einen Kollaps des Landes zu verhindern.
Das bevorstehende Gipfeltreffen der Regierungschefs wird zum Prüfstein für die politische Handlungsfähigkeit der EU. Wenn sie versagt, verliert sie jede Glaubwürdigkeit nach innen und außen. Täuschen wir uns nicht: Es geht nicht „nur“ um die Zukunft der Ukraine. Was auf dem Spiel steht, ist die Zukunft Europas. Wir bitten Sie dringend, alles zu tun, um zu einer festen Haltung der EU gegenüber dem Angriff auf die Ukraine zu kommen. Das heißt auch, die europäische Perspektive der Ukraine zu bekräftigen.
Nicht nur die Regierungen sind gefragt: Dies ist auch ein Weckruf an die europäische Zivilgesellschaft. Wir appellieren deshalb zugleich an die demokratische Öffentlichkeit, sich mit den Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine zu solidarisieren. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass der europäische Aufbruch der Ukraine mit Gewalt erstickt wird.
Jurij Andruchowytsch, Schriftsteller
Oleksandra Bienert, Euromaidan Wache Berlin
Marieluise Beck, MdB
Olaf Böhnke, Leiter des Berliner Büros European Council on Foreign Relations
Marianne Birthler, ehem. Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde
Franziska Brantner, MdB
Viola von Cramon, MdB a.D.
Peter Franck, Jurist
Ralf Fücks, Vorstand Heinrich Böll-Stiftung
Rebecca Harms, MdEP
Sergey Medvedev, iDecembrists e.V.
Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch e.V.
Ruprecht Polenz, ehem. Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO)
Dr. med. Eva Reich
Prof. Jens Reich, Molekulargenetiker
Manuel Sarrazin, MdB
Stefanie Schiffer, Europäischer Austausch
Prof. Karl Schlögel, Osteuropa-Historiker
Ulrich Schreiber, Literaturfestival Berlin
Thomas Sparr, Suhrkamp-Verlag
Sylke Tempel, Chefredakteurin „Internationale Politik“