Michail Chodorkowskij, einst berühmtester Gefangener im großen Russenreich und gerade einmal ein halbes Jahr in Freiheit, hat ein Buch geschrieben und auf Deutsch herausgebracht. Ein kleines schmales Bändlein mit einem programmatischen Titel: „Meine Mitgefangenen“. Ich möchte das Buch all jenen zur unbedingten Lektüre empfehlen, die Russland ein wenig besser verstehen lernen wollen. Das hat zwei Gründe.
Zum einen ist in Russland das Leben im Straflager wohl noch mehr als anderswo ein Spiegel der Gesellschaft. Dort gelten, drinnen wie draußen, in vielem ähnliche Regeln. Diese Regeln sind weniger durch das Recht gekennzeichnet, als vielmehr durch das, was im Russischen „shit po ponjatijam“ heißt, auf Deutsch etwa „leben nach Ehrenregeln“.
Diese „Ehrenregeln“ sind nicht rechtlich kodifiziert und werden nicht von staatlichen Instituten auf ihre Einhaltung überwacht. Sie entstammen dem kriminellen Milieu und wurden dort früher von eigenen „Autoritäten“, sogenannten „Dieben im Gesetz“ durchgesetzt, von denen es in der späten Sowjetunion etwa 10 bis 15 gab. Dieses System ist in den vergangenen 20 Jahren zerfallen und auch der dazu gehörige „Ehrenkodex“ hat sich stark verändert. Geblieben ist aber, dass „Ehrenregeln“ oft eine viel stärkere Ordnungskraft haben als Gesetze.
Das gilt weitgehend für das Leben im Lager, erstreckt sich aber auch in vielen Bereichen auf das Leben draußen. Die Putinsche Entkernung des Staates, die willkürliche, zielgerichtete Nutzung der „Rechtsschutzorgane“ (zu denen in Russland Polizei, Geheimdienst, Staatsanwaltschaft, Justizverwaltung, aber eben auch Gerichte gezählt werden) hat dazu geführt, dass auch große Teile des öffentlichen, des wirtschaftlichen und des politischen Lebens heute viel eher „po ponjatijam“, nach dem Ehrenkodex geregelt werden, als nach dem Gesetz.
Der Fall Chodorkowskij ist hier Grund- und Paradebeispiel. Das funktionierte nach dem in Russland bekannten Motto „den Freunden Möglichkeiten, allen anderen das Gesetz“. Michail Chodorkowskij wurde 2003 von Putin vor die Wahl gestellt, „nach den Regeln zu spielen“. Die hießen aus Putins Sicht, dass er sich zwar hätte weiter bereichern können, sich dazu aber aus der Politik heraushalten müssen. Chodorkowskij wollte damals aber schon seit einiger Zeit aus der Welt der informellen Regeln und Absprachen heraus, um in eine Welt zu gelangen, in der Gesetze gelten und ihre Einhaltung auch für alle (oder zumindest möglichst viele) gilt. Weil er damit nicht mehr zu den „Freunden“ gehörte, bekam er das Gesetz.
Und er bekam noch mehr. Er bekam einen tiefen Einblick in die russische Lebenswirklichkeit jenseits einer kleinen Wirtschafts- und Politikelite mit ihren von der übrigen Welt abgeschlossenen Lebensghettos. Damit komme ich zum zweiten Grund, warum ich sein schmales Buch so unbedingt zur Lektüre empfehle. Michail Chodorkowskij zeigt in dem Buch eine seltene Gabe zur Beobachtung von menschlichen Schicksalen. Davon handelt das Buch. Beschrieben werden 21 Menschen, alles Männer (weil Frauen in eigenen Lagern sitzen), alles verurteilte Gesetzesbrecher (wenn auch nicht alle von ihnen im juristischen Sinn Gesetze gebrochen haben). Die Schilderungen sind lakonisch, aber atmosphärisch sehr dicht. Vor allem aber erzählt jedes einzelne dieser 21 kurzen Kapitel von einem typischen Schicksal. Es sind Geschichten, die in Russland immer wieder vorkommen. Und sie handeln fast immer von einer Gesellschaft, einem Staat, dem der (oder die) Einzelne, das Individuum zutiefst egal ist.
Insofern ist schon der Titel des Buchs doppeldeutig programmatisch. „Mitgefangen“ sind nicht nur die Zellen- und Lagergenossen Michail Chodorkowskijs, sondern alle Einwohner Russlands. Der Einband kündet davon, man halte „…ein Buch über Menschen in extremen Situationen…“ in Händen. Auch das stimmt doppelt. Die Gefangenschaft in einem russischen Straflager ist extrem. Doch extrem ist auch das Leben im Russland jenseits des Lagers. Extremität ist sozusagen die russische Normalität. Das gilt soweit, dass viele Menschen aus Russland, die eine Weile im Westen gelebt haben, sich angesichts der dort vergleichsweise gemütlichen Normalität anfangen zu langweilen, sich in ihr extremes Land zurücksehnen. Und dass umgekehrt viele Menschen aus dem Westen, die einmal in Russland gelebt haben, sich nach der Rückkehr ins geordnete Bürgerleben zum Beispiel in Deutschland den fast alltäglichen Kitzel des (Über-)Lebens in Russland zurück wünschen.
Der Schutzumschlag des Buchs kündet auf der Rückseite aber noch von etwas anderem. Er sagt, dies sei ebenso „…ein Buch über menschliche Würde an einem Ort, an dem niemand sie vermutet“. Auch das ist wahr. Denn ebenfalls ist sowohl im Lager wie in Freiheit die Erhaltung der eigenen Würde ein gleichzeitig oft geschehenes Wunder und pure Notwendigkeit.
Was sind das nun für Geschichten, die Michail Chodorkowskij in den vergangenen Jahren regelmäßig aus dem Lager heraus für eine Rubrik der russischsprachigen Moskauer Wochenzeitschrift „The New Times“ geschrieben hat, und die nun gesammelt auf Deutsch vorliegen? Es sind, ganz schlicht, Geschichten von Menschen. Von Alexander, einem 19-jährigen russischen Nazi. Von Wjatscheslaw oder Roman, die im Gefängnis andere Gefangene im Auftrag der Wächter prügeln, weil sonst sie geprügelt würden. Und Geschichten über jene, die sich lieber prügeln lassen als selbst zu prügeln.
Oder es geht um Konstantin, der sitzt, weil er in einer Kolchose Lämmer für eine Millionen Rubel unter der Hand verkauft hat, den Staatsanwälten aber nicht sagte, wo er das Geld versteckt hat. Dessen Tochter dank dieses Geldes in St. Petersburg studieren kann und ‚raus kommt aus der elenden, verstrahlten Provinz an der chinesischen Grenze ganz weit im Osten.
Wichtig und eindrucksvoll sind diese Geschichten. Wichtiger aber noch ist, dass alle diese Menschen ihre Würde zu behalten versuchen, und dass Michail Chodorkowskij davon in Würde erzählt. Er kann das, weil auch er selbst seine Würde im Lager nicht verloren hat. Anders lässt sich nicht wirklich überleben. Nicht im Lager und nicht in Russland.