Der Durchsuchungsfall bei Memorial St. Petersburg ist beendet. Die Staatsanwaltschaft hat die beschlagnahmten Computerfestplatten und andere Materialien nach einem Beschluss des St. Petersburger Stadtgerichts vom 6. Mai 2009 zurück gegeben. Ob die Festplatten noch funktionsfähig und die darauf gespeicherten Informationen über den staatlichen Terror in der Sowjetunion vollständig sind, wird eine technische Überprüfung in den kommenden Tagen zeigen. Wichtig ist, dass Memorial mit Mut und Beharrlichkeit (und natürlich dank großer öffentlicher Unterstützung in Russland und aus aller Welt) vor Gericht gewonnen hat. Ein kleiner, fahler Nachgeschmack bleibt allerdings. Das Gericht erklärte die Druchsuchung nur aufgrund von Verfahrensfehlern für rechtswidrig. Über den Verdacht der Staatswanwaltschaft, Memorial unterstütze rechtsradikale Publikationen finanziell, weigerte sich das Gericht zu verhandeln. Mehr noch. Es stellte fest, dass es allein der Staatsanwaltschaft überlassen sei, ob und wann sie es für notwendig halte, Durchsuchungen, Observierungen oder andere in Russland so genannte „operative Untersuchungen“ durchzuführen. Sollte sich das nicht nur als die Meinung eines einzelnen Gerichts erweisen, sondern allgemeine Rechssprechung werden, wären der ohnehin schon sehr mächtigen Staatsanwaltschaft in Russland kaum noch rechtliche Grenzen gesetzt.
Memorial analysiert in einer Erklärung die Gerichtsentscheidung und den Ausgang der ganzen Affäre. Ich dokumentiere hier diese Erklärung in eigenhändiger Übersetzung:
Finale des „Falls Durchsuchung“ und einige Lehren daraus
Eklärung von Memorial
Moskau, 12. Mai. 2009
Am 6. Mai hat das St. Petersburger Stadtgericht das Urteil des Dserschinskij-Kreis-Gerichts bestätigt, nach dem die am 4. Dezember vorigen Jahres im Wissenschaftlichen Informationszentrum Memorial in St. Petersburg durchgeführte Durchsuchung rechtswidrig war.
Am Abend des selben Tages haben Vertreter von Memorial – der Anwalt Iwan Pawlow, die Direktorin des Zentrums Irina Flige und das Mitglied des Gründerrates Tatjana Kosinowa – in Anwesenheit des Vorsitzenden der Organisation „Bürgerkontrolle“ Boris Pustynzew und der Vertreterin des Menschenrechtsbeauftragten von St. Petersburg Swetlana Jekimowa bei der Kreisstaatsanwaltschaft die gesetzwidrig beschlagnahmten Materialien, darunter zwölf Computerfestplatten abgeholt. Zum Zeitpunkt der Beschlagnahme befanden sich auf den Festplatten Datenbänke, die die Resultate von zwanzig Jahren Forschungsarbeit des Zentrums zur Geschichte des politischen Terrors in der Sowjetunion enthielten.
Die Rückgabe wurde durch ein von Memorial erstelltes und durch die Beobachter unterzeichnetes Protokoll dokumentiert. Alle zurück gegebenen Materialien wurden in Pappkartons verpackt, mit dem Stempel von Memorial versiegelt und ins Zentrum zurück gebracht. In den kommenden Tagen werden unabhängige technische Experten in Anwesenheit von Vertretern der Öffentlichkeit die Festplatten auf ihre Arbeitsfähigkeit und die Unversehrheit der auf ihnen enthaltenen Informationen untersuchen.
In den fünf Monaten, die seit der Durchsuchung vergangen sind, haben insgesamt vier Prozesse stattgefunden, in denen Memorial forderte, die Durchsuchung für gesetzwidrig zu erklären und die beschlagnahmten Materialien zurück zu geben. Schon im März hatte die Staatsanwaltschaft erklärt, sie sei zur Rückgabe bereit, weil sie die Materialien „nicht mehr brauche“; nun war sie gezwungen sie auf Anorndung des Gerichts zurück zu geben.
Natürlich ist mit der Rückgabe seines Eigentums nicht der Schaden kompensiert, der dem Zentrum zugefügt wurde: Als Folge des Überfalls wurde die gesamte Bürotechnik unbrauchbar gemacht. Die enorme Menge an wissenschaftlichen und lexikalischen Informationen, die auf den beschlagnahmten Festplatten gespeichert ist, war über fünf Monate lang nicht zugänglich. Der Schaden kann sich als noch größer erweisen als wir uns heute vorstellen, wenn die Überprüfung ergibt, dass die Informationen auf den Festplatten gelöscht oder beschädigt worden sind. Auch die Frage nach dem moralischen Schaden, der unserer Organisation zugefügt wurde, ist weiter offen: Der absurde Verdacht des Untersuchungsbeamten Kalganow, Memorial könnte an der Finanzierung rechtsradikaler Publikationen beteiligt sein, der auch öffentlich auf einer Sitzung der OSZE vom offiziellen Vertreter Russlands wiederholt wurde, konnte im Gericht nicht wiederlegt werden. Das Gericht weigerte sich diese Anschuldigungen zu verhandeln und befasste sich nur mit Verfahrensfragen. Memorial ist entschlossen, seinen guten Namen zu schützen und bereitet die dafür notwendigen Schritte vor.
Und trotzdem: Die Rechte unserer Organisation sind wiederhergestellt, das Eigentum wurde zurück gegeben. Wir gehen davon aus, dass wir dieses Ergebnis nicht erreicht hätten, wenn es nicht ein Protest- und Solidaritätswelle in der ganzen Welt und in Russland sofort nach dem Polizeiüberfall am 4. Dezember gegeben hätte. Memorial bedankt sich aufrichtig der russischen und der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft, dem Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation und dem regionalen Menschenrechtsbeauftragten von St. Petersburg, den Menschenrechtsstrukturen des Europarats, der demokratischen Öffentlichkeit und politischen Organisationen in Russland, russische und ausländische Massenmedien (insbesondere die Internetzeitungen Polit.Ru und „Menschenrechte in Russland“), ausländische Politiker und viele andere für ihre Unterstützung.
Memorial weist die Öffentlichkeit darauf hin, dass aus dem „Fall Durchsuchung“ einige Lehren gezogen werden können.
Erstens: Entgegen der landläufigen Meinung ist es in einzelnen Fällen möglich vor Gericht Gerechtigkeit zu erfahren, wenn man genügend Kraft und Nachdrücklichkeit aufbringt. Solch ein Sieg ist nicht billig; in unserem Fall mussten wir vor allem mit der Zeit und der Kraft der Mitarbeiter von Memorial bezahlen, die in den vergangenen fünf Monaten ständig ihre eigentliche Arbeit liegen lassen mussten, um das Recht und den guten Namen ihrer Organisation zu schützen.
Zweitens: Öffentliche Protestkmpagnen haben nicht nur die Bedeutung symbolischen Prostest. Sie können auch praktische Resultate haben.
Drittens: Offenbar ist unter den heutigen Bedingungen wenig realistisch, auch in der Sache Recht zu bekommen, sofern es um die Interessen von staatlichen Stellen geht. Im „Fall Durchsuchung“ zeigte sich das daran, dass das Gericht sich weigerte über die Rechtmäßigkeit der Durchsuchungsbegründung zu verhandeln. Stattdessen erklärte das Gericht, es liege ausschließlich in der Kompetenz der Staatsanwaltschaft, zu entscheiden, ob eine Durchsuchung gerechtfertigt sei oder nicht. Damit hat das Gericht faktisch festgestellt, dass die Staatsanwaltschaft die Rechte juristischer Personen willkürlich einschränken kann, ohne im Nachhinein eine gerichtliche Überprüfung fürchten zu müssen. Memorial ist der Meinung, dass eine derartige Praxis verfassungswidrig ist.
Viertens: Im Verlauf der gerichtlichen Untersuchung stellte sich heraus, dass Polizei, Geheimdienste und Justiz (zumindest das Zentrum zur Abwehr von Extremismus der Hauptverwaltung des Innenministeriums im Nord-Westlichen Föderalbezirk) Memorial als „extremistische“ Organisation betrachten, deren Büro observiert werden musste. Unsere Versuche, die Gründe herauszufinden, warum das Wissenschaftliche Informationszentrum Memorial Objekt operativer polizeilicher Beobachtung wurde, blieben bisher erfolglos. Das Zentrum zur Abwehr von Extremismus der Hauptverwaltung des Innenministeriums im Nord-Westlichen Föderalbezirk weigerte sich bisher auf unsere Anfrage Auskunft zu geben, indem es darauf verweist, dass Observationen gesetzlich der Geheimhaltung unterliegen. Allerdings sagt schon die Tatsache, dass sich der „Kampf gegen den Extremismus“ auf Organisationen wie Memorial konzentriert einige über die Gründe, warum echte extremistische Handlungen in St. Petersburg, ja im ganzen Land zunehmen, gleichzeitig aber die Aufklärungsquote von Verbrechen mit extremistischem Hintergrund katastrophal gering bleibt. Die Geschichte um die Observation von Memorial muss ein weiterer Anstoß dazu werden, eine ernsthafte öffentliche Diskussion darüber zu beginnen, welche Ziele und Prioritäten heute der „Kampf gegen den Extremismus“ durch Geheimdienste, Justiz und Polizei hat. Wir erwarten, dass an einer solchen eine Diskussion auch interessierte staatliche Stellen und Behörden teilnehmen.
Damit ist der „Fall Durchsuchung bei Memorial“ beendet (zumindest was die Wiederherstellung unserer Rechte angeht), aber einige Aspekte dieses Falls erfordern ein öffentliches Nachdenken.
Internationale Gesellschaft Memorial
St. Petersburger Gesellschaft Memorial
Wissenschaftliches Informationszentrum Memorial (St. Petersburg)