Am 1. September erscheint mein Buch 111 Gründe, Russland zu lieben. Von heute an werde ich in lockerer Folge einige der Gründe hier schon einmal vorab verraten. Als Appetitanreger. Ich fange mit dem 1. Grund an:
Weil man das Land im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil verstehen kann
Auch in Deutschland wird gern der auf den russischen Dichter Fjodor Tjuttschew verwiesen, wenn es um Russland geht. In einem Gedicht postulierte er Mitte des 19. Jahrhunderts: „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“
Nun ist Russland wirklich anders – wie eben jedes Land anders ist. Vielleicht ist das Leben in diesem wahrhaft großen Land, zumal aus wohlgeordnet-deutscher und damit gelegentlich kleinteiliger Sicht tatsächlich ein wenig grotesker, absurder, exzentrischer, mitunter auch makaberer als das Leben in Zentraleuropa. Aber dieses Anderssein ist kein Rätsel. Es ist Alltag und damit beschreib- und begreifbar. Russische Schriftsteller, vor allem die Satiriker unter ihnen angefangen mit Nikolaj Gogol und dann später Michail Saltykow-Schtschedrin, Ilf und Petrow oder Wenedikt Jerofejew haben das immer wieder überragend getan, und wir ergötzen uns noch heute daran.
Den Blick aus dem Westen (ganz profan: je westlicher geographisch, umso stärker) trübt oft jedoch noch etwas Anderes. Ich möchte es das Nahe im Exotischen nennen (das umgekehrt aber auch das Exotische im Nahen sein kann). Viele Reisende, die nach Russland kommen, erwarten Exotik, sehen aber Europa. Allerdings das russische Europa. Dieses spezifisch Europäische im Russischen wirkt zwar fremd, aber eben oft nicht fremd genug, um die mitgebrachten Erwartungen zu erfüllen. Es ist oft nur ungewohnter als das italienische oder französische Fremde. Das verwirrt. In Afrika oder China ist das eindeutiger und damit einfacher.
Aus russischer Sicht ist es gleichzeitig durchaus bequem, sich hinter dem angeblichen Nichtverstandenwerdenkönnen zu verstecken. Dann muss man sich nicht so anstrengen, kann sich mehr gehen lassen. Wir sind anders. Basta! Was wollt Ihr noch? Das hört sich übrigens sehr deutsch an, wenn auch (glücklicherweise!) inzwischen ein wenig veraltet.
Etwas klüger ausgedrückt findet sich diese Figur übrigens im alten, konstruierten Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation wieder, wie ihn auch Thomas Mann vor hundert Jahren in seinem Großessay Betrachtungen eines Unpolitischen für Deutschland gegenüber dem damaligen Westen (bestehend vor allem aus Frankreich und England – heute müsste unbedingt die USA hinzugefügt werden) behauptete. Oft werden Deutsche in Russland angesprochen, man müsse doch eigentlich gemeinsame Sache machen, da Tiefe und Kultur beide Länder auszeichneten vor der angelsächsisch dominierten, merkantilen Zivilisation.
Russland ist also, hier (einem früheren) Deutschland tatsächlich ähnlich, auf der Suche nach sich selbst. Wie suchende Menschen, zum Beispiel in der Pubertät oder einer Lebenskrise, ist es sich daher auch selbst oft ein Rätsel. Doch bedeutet die Aussage, ein Land sei rätselhaft, ja nicht, dass das Rätsel nicht zu lösen wäre. Man braucht nur ein wenig Geduld, Einfühlungsvermögen und natürlich Übung.
Um ein Land, sein Volk oder seine Bevölkerung zu verstehen, hilft es übrigens oft, den Leuten „aufs Maul“ zu schauen. Sprache verrät viel, fast alles über das Denken und über das Fühlen. Sprache ist, im positiven wie im negativen Sinn, verräterisch. Wenn man sich die Sprache anschaut, die Begriffe und wie sie benutzt werden, dann eröffnet sich oft gleich ein ganzer Kosmos an Vorstellungen und Assoziationen.
Es spricht übrigens viel dafür, dass Fjodor Tjuttschew, ein Spötter vor dem Herrn, in mehr gespielter als echter Verzweiflung, ein gerüttelt Maß an Ironie in seine Zeilen gelegt hat.