Eigentlich ist es Unsinn, über „die Zivilgesellschaft“ zu schreiben. Es gibt ebensowenig eine „Zivilgesellschaft“ innerhalb der Gesellschaft wie es eine „Militärgesellschaft“ gibt oder eine „Wirtschaftsgeselslchaft“ oder gar eine „Politikgesellschaft“. Was es aber gibt, sind Menschen und Gruppen, die sich jenseits von politischem oder wirtschaftlichem Engagement für ihre Interessen einsetzen, die also zwar weder direkte politische Macht oder wirtschaftlichen Gewinn anstreben, sich aber gleichwohl einmischen. Heinrich Böll, im Hauptberuf Schriftsteller, Prosaist, war so jemand, ein Einmischer, wie er sich nannte. Sein Satz „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“ ist bis heute das Motto der Heinrich Böll Stiftung.
Einmischerinnen und Einmischer sind inzwischen auch viele Menschen in Russland. Zu Sowjetzeiten wurden sie verfolgt, verhaftet, in den Untergrund oder in die Emigration gedrängt. Heute werden sie PolitikerInnen, Geschäftsleute oder engagieren sich eben in zivilgesellschaftlichen Initiativen, den oft sogenannten NGOs. Mit diesen Menschen arbeitet die Heinrich Böll Stiftung in Russland (und nicht nur hier) in erster Linie zusammen. Je mehr sie werden, je mehr alle anderen derartiges Engagement gut, richtig, nützlich, ja notwendig finden, umso ziviler wird eine Gesellschaft. Russland wird, wie andere Länder auch, in Schüben ziviler. Gesellschaften entwicklen sich nicht gradlinig, kontinuierlich. Zwar geht die Entwicklung oft in kleinen Schritten voran, dann aber geschehen oft große Sprünge. Ja, Geschichte springt. Wenn es gut geht, wenn wir Glück haben, erleben wir mit den Protesten gegen die Wahlfälschungen gerade einen solchen Sprung.
Eine kleine Geschichte des Verhältnisses von Zivilgesellschaft und Politik habe ich in der Nummer 10/2011 der Zeitschrift Osteuropa nachgezeichnet. Der Artikel ist dort nun auch online verfügbar: Jens Siegert: An der Weggabelung. Zivilgesellschaft und Politik in Russland“