Heute vor einem Jahr begann das blutige Jahr für russische MenschenrechtlerInnen und JournalistInnen. In Moskau wurden am 19. Januar 2009 Stanislaw Markelow und Anastassija Baburowa auf offener Straße von einem Auftragsmöder regelrecht hingerichtet. Im Juli wurde in Tschetschenien Natalja Estemirowa entführt und ermordet, in Dagestan Farid Babajew erschossen und in St. Petersburg Nikolaj Girenko. Sergej Kowaljow hat Mitte Dezember bei seiner Dankesrede zur Verleihung des Sacharow-Preises im Europaparlament in Straßburg an sie und viel mehr andere erinnert.
Fast jeder dieser Morde wurde von Versicherungen höchster Stellen bis hin zu Präsident Dmitrij Medwedjew begleitet, die „Mörder und (besonders wichtig! JS) ihre Hintermänner ausfindig zu machen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen“. Hier und da wurden Verdächtige verhaftet. Im fall von Stanislaw Markelow und Anastassija Baburowa könnte es sogar sein, dass die Richtigen gefunden wurden. Doch insgesamt bestätigen die weitgehend ausgebliebenen Fahndungserfolge, dass Auftragsmorde, ausreichend organisierte Morde, politische Morde in Russland meist straflos bleiben. Man kann nur diejenigen Menschen bewundern, die sich unter dieser Bedrohung weiter für Menschenrechte in Russland einsetzen.
Heute, am Jahrestag, wollen Moskauer MenschenrechtlerInnen mit einer Mahnwache der Ermordeten des vorigen Jahres gedenken und gegen den Terror gegen ihre MitstreiterInnen (und die Bedrohung gegen sie selbst) protestieren. Doch eigentlich hatten sie vor, demonstrierend durch die Stadt ziehen. Das wurde ihnen verboten. Angeblich hätten die AnmelderInnen (darunter die 82-jährige Vorsitzende der Moskauer Helsinki Gruppe Ludmila Alexejewa, die bereits zu Sylvester bei einer anderen nicht genehmigten Demonstration für mehrere Stunden festgenommen worden war) die gesetzlichen Fristen nicht eingehalten, wurde der ablehnende Bescheid der Moskauer Stadtverwaltung begründet. Alle Versuche, dennoch und ohne Erlaubnis zu demonstrieren würden „hart unterbunden“. Damit begann ein ünwürdiges Theater.
Dabei hatten die Demonstranten aus schlechter Erfahrung ganz genau gezählt. Die Anmeldung muss, eine der vielen kleinen demonstrationsverhindernden Verwaltungsvorschriften des russischen Demonstrationsrechts, mindestens 10 Tage aber nicht eher als 15 Tage vor einer Aktion vom Anmelder persönlich eingereicht werden. Wenn also heute demonstriert werden sollte, hätten die Anmelder in der Zeit vom 4. bis zum 9. Januar im zuständigen Amt vorstellig werden müssen. Nun sind aber die ersten 10 Tage im Jahr in Russland arbeitsfrei, auch die Moskauer Stadtverwaltung hat selbstverständlich alle Kontore geschlossen. Die Anmelder, dies voraussehend, rechneten zurück und waren deshalb schon am 24. Dezember erschienen, hatten ihren Stempel bekommen und waren zuversichtlich, alles richtig gemacht zu haben.
Doch nein. Mit Datum vom 11. Januar, dem ersten Arbeitstag im neuen Jahr, beschied ein Herr Olejnik, der Antrag sei nicht fristgerecht eingereicht worden. Es hätte die Zeit vom 4. bis zum 9. sein müssen. Trotz des traurigen Anlasses konnte sich die oppositionelle „Nowaja Gaseta“ einen bitteren Witz nicht verkneifen und bemerkte, da sei wohl „die Verfassung in den Ferien gewesen„. Die Anmelder und ihre Unterstützer empörten sich selbstverständlich so öffentlich, wie das Kremlkritikern in Russland möglich ist (über das Internet immerhin im ganzen Land und in der Welt zudem). Die Absurdität dieser Ablehnung erschien dann offenbar aber auch den politisch Verantwortlichen zu groß. In einem zähen „Abstimmungsprozess“ wurde eine Mahnwache genehmigt.
Diese kleine Geschichte einer Demonstrationsanmeldung zeigt zumindest zweierlei, wobei kaum entscheidbar ist, was mehr Einfluss hat: Große politische Erklärungen und Versicherungen bleiben kaum mehr als beruhigende Propagandarituale. Man verhält sich so, wie es die Umwelt, die innerrrussische wie die internationale, erwartet: Morde sind schlecht, Morde an Rechtsanwälten, Journalisten und Menschenrechtlern sind ganz schlecht. Also muss man versichern, alles zu tun, um sie aufzuklären. Die Erfahrung der vergangenen jahre hat aber gezeigt, dass die Nicht-Aufklärung dann politisch nicht mehr zu fürchten ist. Das (politische) Leben ist schnell und der gestrige Mord rasch vergessen.
Das Zweite hat etwas mit dem politischen System zu tun, das sich unter Putin (und nun Medwedjew) herausgebildet hat. Demonstrieren ist zwar eigentlich erlaubt, aber in Wirklichkeit verboten. Opposition ist zwar eigentlich erlaubt, aber nur der Sichtbarkeit wegen. Die Macht hat der Apparat. Darauf ist die staatliche Verwaltungsmaschine geeicht. Sie ist politisch weitgehend gefühllos. Sie kann auch nicht unterscheiden, was politisch unter Umständen behutsamer behandelt werden müsste. Nicht weil es gefährlich wäre, sondern menschlich nötig. Das macht ihr Handeln oft so obszön.