Eigentlich hat Medwedjew kaum etwas mit meinem heutigen Thema zu tun. Eher schon Putin. Oder Breschnjew. Oder Alexander der zweite. Oder Katherina die Große. Letztendlich aber Peter der Erste (der interessaanter Weise entgegen aller patriotischen Großmannssucht hierzulande im Gegensatz zum Westen meist nicht „groß“ genannt wird. Wahrscheinlich aber soll die Bescheidenheit seine wahre Größe noch unterstreichen). Peter der Erste nun stand am Anfang der russischen Bürokratie, am Anfang einer geordneten Verwaltung des Russischen Reiches, das mit ihm zum Imperium wurde. Wie fast alle Modernisierungsschübe seither, fußt auch sie auf der nachholenden Nachahmung weiter westlich entstandener Vorbilder. Wie fast alle Modernisierungen seither zeichnete sie sich dadurch aus, ihre Vorbilder ernster zu nehmen als diese sich selbst. Von der russischen Bürokratie des 19. Jahrhunderts liest man am unterhaltensten bei Michail Saltykow-Schtschedrin (da Gogol weit mehr als ein Satiriker war). Das Ende des Zarenreiches und die Anfänge der Sowjetunion haben Ilja Ilf und Jewgeni Petrow unübertrefflich karikiert. Der beißendste Spötter der sowjetischen Ausprägung der russischen Bürokratie war wohl Michail Soschtschenko. Die heutige Bürokratie hat ihren kanonischen Erzähler (oder vielleicht endlich einmal ihre kanonische Erzählerin) noch nicht gefunden. Es ist noch zu früh und nur der schnelle und witzige Volkesmund findet bisher gelungenen Spott. Daher müssen wir uns vorerst mit kleineren Erzählungen kleinerer, eher publizistischer denn literarischer Geister begnügen. Ich möchte hierzu ein kleines persönliches in sieben Akten beitragen:
Die Mitwirkenden:
- Die Filiale einer ausländischen Nichtregierungsorganisation (in Person ihres Leiters)
- Beamte des Föderalen Migrationsdienstes unterschiedlichen Ranges (hier, des Persönlichkeitsschutzes wegen, Iwanow, Kusnezow, Sergejew, Sidorow, Borisow, Alexandrow und Nikolajew)
- Eine Botschaft eines EU-Mitgliedslandes mit guten wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland
Die Szene:
Zum 15. Januar trat ein neues „Gesetz zur Registrierung ausländischer Bürger auf dem Territorium der Russischen Föderation“ in Kraft. Während sich Ausländer, die Inhaber eines Jahresvisums waren, bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes nur einmal, beim Erhalt des Visums polizeilich anmelden mussten und nur abmelden, wenn sie das Land das letzte Mal mit diesem Visum verließen, fordert das neue Gesetz, sich jedes Mal binnen drei Tagen anzumelden und abzumelden, wenn man in das Land einreist. Zudem müssen sich Ausländer abmelden, wenn sie, innerhalb des Landes reisend, den angeleldeten Aufenthaltsort für mehr als drei Tage verlassen. Am neuen Ort muss man sich wieder anmelden und wieder abmelden usw. Für Vielreisende eine Qual. Beim Außenministerium akkreditierte Korrespondenten haben deshalb auch eine Ausnahmegenehmigung erwirkt. Für Geschäftsleute oder Mitarbeiter ausländischer NGOs (unter Verdacht!) gilt das Gesetz. Der Leiter einer NGO-Filiale machte nun, aus alter Gewohnheit, einen Fehler. Er meldete sich zwar an, aber nicht ab. Das ging über zwei Jahre gut. Dann geriet die Sache auf die schiefe Bahn.
1. Akt:
Im Frühjahr klingelte in besagter Filiale das Telefon. Am Apparat war Iwan Iwanow, für Bußgeldverfahren zuständiger Mitarbeiter der untersten Behörde des Föderalen Migrationsdienstes (FMS, für Ausländerangelegenheiten zuständig). Man habe da eine Unregelmäßigkeit festgestellt. Der Leiter habe sich und eine Mitarbeiterin nicht ordnungsgemäß abgemeldet. Ob er nicht einmal persönlich vorbeikommen könne. Er sei gerade auf dem Weg zu einer Auslandsdienstreise? Kein Problem, dann eben nach der Rückkehr. Iwan Iwanow stellte sich als junger, höflicher Beamter heraus, der, wie er versicherte sehr zu seinem Bedauern, zwei „Protokolle über administrative Vergehen“ ausfertigen müsse. Das Gesetz sehe für Vergehen gegen die Meldepflicht Strafen zwischen 4.000 und 400.000 Rubel vor (zu jenen Zeitpunkt zwischen 90 und 9.000 Euro): Für physische Pesonen 4.000 bis 5.000, für „Funktionsträger“ 40.000 bis 50.000 Rubel, für juristische Personen zwischen 400.000 und 500.000 Rubel. Ein Filialleiter, so Iwan Iwanow, sei ein „Funktionsträger“, er werde der Entscheidungsbefugten höheren Stelle empfehlen, zweimal 40.000 Rubel Strafe zu verhängen, es sei immerhin das erste Mal. Auf die Frage des Leiters, ob man beim ersten Mal nicht Milde walten und es mit einer Verwarnung bewenden lassen könne, rang Iwan Iwanow sein Hände, blätterte im Gesetzestext, wies auf die entsprechenden Seiten und erklärte, das sei leider nicht möglich, läge zumindest aber nicht in seiner Kompetenz. Er überreichte dem Leiter eine Vorladung zur Anhörung bei der nächsthöreren Instanz und die Audienz war beendet.
2. Akt:
Zwei Wochen später erschien der Leiter bei der nächsthöheren Instanz, zuständig für den Moskauer Innenstadtbezirk. Der zuständige Beamte, Kusma Kusnezow war nicht da, wohl aber sein Mitarbeiter Semjon Sidorow. Anhören wollte er den Leiter nicht, wohl aber zwei Bußgeldbescheide über je 50.000 Rubel ausstellen. 50.000? Iwan Iwanow hatte doch 40.000 empfohlen. Man könne das Verfahren auch gegen die Organisation selbst eröffnen, also gegen eine juristische Person. Dann würden es zweimal 500.000 Rubel, kam die Antwort von Semjon Sidorow auf diese vorsichtige Frage. Aber warum denn überhaupt eine Strafe, fragte der Leiter. Es sei doch das erste Mal, seine Organisation gemeinnützig und da könne man es doch mit einer Verwarnung belassen. Das könne er, Sidorow, nicht entscheiden, und im Gesetz sei das auch nicht vorgesehen, aber er könne Kusma Kusnezow anrufen. Kusma Kushezow zeigte sich nach einigem Hin und Her großmütig und empfahl, sich um Gnade bittend an Sergej Sergejew zu wenden, den FMS-Chef für ganz Moskau, schriftlich und schnell, er, Kusnezow könne zehn weitere Tage Aufschub gewähren. Der Leiter solle den Brief am besten persönlich bei Oberst Sergejew vorbeibringen, sonst reiche die Zeit nicht aus, bekam er noch guten Rat mit auf den Weg.
3. Akt:
Mit einem ausreichend unterwürfigen Brief bewaffnet erschien der Leiter beim Empfang von Oberst Sergej Sergejew. Oh, nein, keinesfalls, Oberst Sergejew sei viel zu beschäftigt, um zu empfangen, wurde er beschieden, aber es geben eine eigens eingerichtete Stelle im Haus für vorsprechende Bürger. Der Leiter dieser Stelle, Alexander Alexandrow werde sich der Sache sicher gerne annehmen. Alexander Alexandrow stellte sich als leutseeliger Mittfünfziger heraus, wohlmeindend und mit leichtem Bauchansatz. Es verstehe das Anliegen sofort, aber Oberst Sergej Sergejew sei wirklich viel zu beschäftigt. Wer den Leiter zu ihm geschickt habe? Kusma Kusnezow? Hm. Er, Alexander Alexandrow, empfehle, sich an dessen Vorgesetzten, Boris Borisow zu wenden. Er rief Borisow mit seinem Mobiltelefon an und bat ihn, die sache doch bitte zu entscheiden. Quer und ahndschriftlich, in typisch russisch-bürokratischer Weise, vermerkte er nich auf dem Bittbrief an Oberst Sergej Sergejew seine Bitte an Boris Borisow.
4. Akt:
Am nächsten Morgen erschien der Leiter erneut im FMS-Büro für die ganze Moskauer Innenstadt. Boris Borisow war sichtlich ratlos. Das kleine Heftchen mit dem Gesetz in der Hand, erklärte er, durchaus sympathisierend, eine Verwarnung sei nicht vorgesehen, nur die Strafen von 4.000 bis 400.000 Rubel. Inzwischen hatten sich auch Kusma Kusnezow und Semjon Sirdorow aus ihrem benachbarten Büro hinzugesellt. Man kam überein, einmal einen „Experten“ rufen. Der namentlich nicht vorgestellte Experte bestätigte die Meinung von Boris Borisow, Kusma Kusnezow und Semjon Sidorow, dass da nichts zu machen, sei, zumindest nicht auf ihrer Hierarchieebene. nachdem er erneut im Gesetzestext geblättert hatte, kam Boris Borisow eine ganz neue Idee. Der Leiter solle am Besten bei Nikolaj Nikolajew vorsprechen. Das sei einer Stellvertreter von Oberst Sergej Sergejew (sehr beschäftigt!), zuständig für Bußgeldverfahren. Vielleicht wisse Nikolaj Nikolajew Rat. Ausgestattet mit der Telefonnummer von Nikolaj Nikolajew und der Ermahnung, dass nur noch zwei Tage blieben, zog der Leiter von dannen.
5. Akt:
Am frühen Nachmittag gelang es, telefonisch mit dem Vorzimmer von Nikolaj Nikolajew Kontakt aufzunehmen. Leider sei Nikolaj Nikolajew in einer Sitzung hieß es, man werde sich aber zurückmelden. Des Leiters Hoffnung sank auf den Nullpunkt. Zurückmelden ist nicht gerade die Stärke russischer Beamter, vor allem, wennn nicht sie etwas wollen. Doch es geschah ein Wunder, eine Stunde später wurde der Leiter mit Nikolaj Nikolajew verbunden. Zu einem Treffen war der Stellvertreter von Oberst Sergej Sergejew jedenfalls nicht bereit. Er wollte nur wissen, wer den Fall im für den Innenstadtbezirk zuständigen FMS-Büro betreue. Kusma Kusnezow, soso. Den, so Nikolaj Nikolajew, werde er am Abend treffen und den Fall mit ihm besprechen. Ohne große Hoffnung informierte der Leiter Kusma Kusnezow darüber. Kusma Kusnezow zeigte sich durch diesen Anruf merkbar gestört.
6. Akt:
Da die Hoffnung, wie gesagt, entgegen sprichwortlicher Weisheit fast gestorben war, erinnerte sich der Leiter, dass die Botschaft seines Landes schon das eine oder andere mal in solchen Fällen hatte hilfreich sein können. Er rief die Rechts- und Konsularabteilung an und bat um Unterstützung. Man versprach dort, sich direkt an Oberst Sergej Sergejew zu wenden. Am nächsten Morgen erhielt der Leiter aus der Botschaft (man verfügt dort über seine Mobiltelefonnummer, da Ähnliches Ungemach Geschäftsleuten wohl des Öfteren passiert, man reist ja viel) die Mitteilung, Oberst Sergej Sergejew habe zugesagt zu entscheiden, man wisse aber natürlich nicht, wie. Der Leiter solle zum vereinbarten Zeitpunkt wieder bei Kusma Kusnezow vorsprechen.
7. Akt:
Kusma Kusnezow wartete bereits. Oberst Sergej Sergejew habe entschieden, dass zweimal 2.000 Rubel Strafe zu zahlen seien. Ob der Leiter das akzeptiere? Ja, war die erleichtert-zustimmende Antwort. Dann solle er doch mal einen Kaffee in der Kantine trinken gehen, während man die entsprechenden Dokumente vorbereitete. Nach einer halben Stunde kam der Leiter wieder, Kusma Kusnezow höndigte den Strafbefehl aus und auch Boris Borisow erschien auf dem Korridor. Mit der Ermahnung, künftig die Gesetze gewissenhafter einzuhalten, wurde er freundlich.händedrückend entlassen.
Moral:
Es gibt zwei Erklärungen dafür, dass sich mit Iwan Iwanow, Alexander Alexandrow, Semjon Sidorow, Boris Borisow, Oberst Sergej Sergejew, Kusma Kusnezow, Nikolaj Nikolajew und dem ungenannten Experten eine ganze Armee von mehr oder weniger hoichgestellten Beamten mit diesem einen kleinen Vergehen gegen die Meldebestimmungen beschäftigten:
Die erste Erklärung machte der sogenannten „Machtvertikale“ wenig Ehre. Die Zentralisierung der Entscheidungsbefugnis ganz oben macht es für Beamte weiter unten wenig attraktiv, irgendetwas zu entscheiden, was außerhalb des Offensichtlichen liegt. Man kann sich nur die Finger verbrennen. Das gilt vor allem für Entscheidungen, die nicht den „Buchstaben des Gesetzes“ folgen. Im vorliegenden Fall war allen Beteiligten klar, dass Milde angebracht gewesen wäre, aber eben im Gesetz nicht vorgesehen. Zudem drückt der mit ausschließlich administrativen und strafrechtlichen Mitteln geführte „Antikorruptionskampf“. Welcher Beamte auch immer Milde zeigt, ist im Meer der korrupten Kollegen, sofort verdächtig. Die Logik ist einfach: Wer lässt schon Milde walten, weil Milde sinnvoll ist, wenn sich Milde auch auszahlen könnte.
Die zweite Erklärung machte der sogenannten „Machtvertikale“ noch weniger Ehre. Das Offenhalten der Frage nach der Höhe der Bestrafung, die Verlängerung der Untersuchungszeit, das Schicken von Pontius zu Pilatus und zurück, könnte auch dazu gedient haben, den Beschuldigten zur berühmten Frage, „ob man die Sache nicht anders regeln“ könne, zu veranlassen. Danach wäre es um die Höhe des Preises einer inoffiziellen Regelung gegangen. Dafür gibt es dann eingespielte Regeln, Formulierungen, Verfahrensweisen.
Wie auch immer: Schlank kann man diese Verwaltung kaum nennen.