Großer Graben statt Eiserner Vorhang – Russland und der Rest von Europa

Ich wollte eigentlich nicht mehr klagen. Doch dann fand ich eine Einladung in meinem elektronischen Postfach: „Wir müssen reden“, hieß es dort, vom 28 bis 31. Mai, in Berlin, im „Geschichtsforum 1998-2009. Europa zwischen Teilung und Aufbruch“. Schön. Reden ist immer gut. Jedenfalls besser als Schießen. Es laden ein: Die Bundeszentrale für politische Bildung, die Kulturstiftung des Bundes, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, das Institut für Zeitgeschichte München/Berlin, das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., die Humboldt-Universität zu Berlin, das Deutsche Historische Museum und das Maxim Gorki Theater. Und noch mehr als 150 angesehene bis angesehendste Organisationen aus ganz Deutschland (darunter auch die heinrich Böll Stiftung), alle beschirmt vom Bundespräsidenten. Immer noch gut. Dann lese ich das Programm.

Europa, denke ich. Da gehört Russland auch zu, denke ich. 1989, erinnere ich mich. Gorbatschow. Glasnost und Perestroika. Gemeinsames Haus Europa. Samtene Revolutionen. Und ich beginne zu suchen. Da geht es um Kommunismus, um marode Planwirtschaft und florierenden Kapitalismus (sic!), um geteilte Erinnerungen und ein vereinigtes Europa. Die Sowjetunion kommt vor, am Rande. Russland nicht mehr. Liegt wohl heute jenseits des Randes. Ich werde erst wütend, dann traurig, dann wieder wütend. Ja, so ist es. Russland ist draußen. In den Köpfen und in den Herzen. Das große Land ist einfach zuviel für Europa (sic!). Mögen sich die Amerikaner und die Chinesen mit den Russen um eine multipolare Welt prügeln. Wir Europäer (sic!) schaffen das nicht.

1989 hatten wir alle Träume. 1989 war Europa im Aufbruch. Die Länder Mittel- und Osteuropas befreiten sich vom sowjetischen Joch, die Berliner Mauer fiel und Hoffnungen auf eine ganz andere Welt, auf ein „neues Europa“ erfüllten den Kontinent. Seit zwei Jahren schon beflügelte Michail Gorbatschows Wort vom „Gemeinsamen Haus Europa“ die Phantasien. Nun schien vieles, ja fast alles möglich. Die Sowjetunion, ganz ungewohnt, antwortete nicht mit Drohungen und Panzern auf den Freiheitsdrang der Europäer. Sie schloss sich an, ja ging, unter Gorbatschow, bisweilen gar ein wenig voran. Die Deutsche Einheit als auch symbolische Aufhebung der Trennung Europas hätte es so schnell und so reibungslos ohne Michail Gorbatschows Sowjetunion wohl nicht gegeben.

Nach diesem glücklichen, trotz aller Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten gemeinsamen Moment beschäftigten sich alle erst einmal wieder mit sich selbst. Deutschland versuchte die unerwartete Einheit zu bewältigen. Die älteren Staaten östlich von uns versuchten sich in den dornigen Wegen zu Demokratie und Marktwirtschaft. Und noch weiter östlich suchten ganz junge Staaten nach Identität und, das wird heute oft vergessen, Anschluss an den Westen. Das galt, zumindest teilweise, auch für das neue Russland. Alle diese Wege waren widersprüchlich, die sozialen, kulturellen und politischen Umbrüche tief. 

Diejenigen, die einmal von den Großen Zwischeneuropa genannt worden waren, die Balten, Polen, Ungarn und Tschechen, strebten möglichst schnell in die EU, vor allem aber die NATO. Sie suchten Schutz. Sie wollten sich versichern. Sie wollten nicht wieder zwischen die großen Mühlsteine Deutschland und Russland geraten. Bronislaw Geremek sagte einmal Anfang der 1990er Jahre zu einer kleinen Gruppe Grüner, die Polen wollten zuallererst zum Schutz vor Deutschland in die NATO. Dann zum Schutz vor Russland. Aber zu guter Letzt auch zum Schutz vor sich selbst. In dieser Reihenfolge. Dort, in Mittelosteuropa (wie schwierig es ist, diesen Teil Europas auf einen Begriff zu bringen!), werden die 1990er weitgehend als schwere Jahre, aber doch als Jahre interpretiert, in denen die Entwicklung in die richtige Richtung ging – nach Westen. Das Versprechen Europas (und Amerikas) auf Freiheit, Frieden, Demokratie und nicht zuletzt Wohlstand wurde für sie eingelöst. In Russland gelten die 1990er Jahre dagegen heute vor allem als Jahre des Chaos, des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs, ja gar der nationalen Erniedrigung und Schande. All das ist, zumindest vorerst, im russischen Gemüt untrennbar mit Demokratie und Westen verbunden.  

Es gab in den 1990er Jahren und auch noch zu Anfang dieses Jahrzehnts eine ganze Reihe Versuche, auch Russland und die NATO, Russland und die EU anzunähern: Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Russland und der EU, den NATO-Russland-Rat, die Zusammenarbeit im Kampf gegen internationale Terroristen zum Beispiel. All diesen Versuchen ist gemein, dass sie praktisch eher recht als schlecht funktionieren, aber das politische Misstrauen geblieben, ja in den vergangenen Jahren noch gewachsen ist. Die Schere zwischen Russland und dem Rest des Kontinents geht wieder auf.

. Darin wendet sich Memorial in erster Linie gegen diese neue Trennlinie, neue Grenzziehung in Europa. An ihr bauen viele, manche aus guten, andere aus schlechteren Gründen. Der neue Grenzverlauf begann sich zum Zeitpunkt des Aufrufs gerade abzuzeichnen: Noch ist nicht klar, wer alles rein kommt in die EU, aber dass Russland draußen bleibt, ist sicher. Wieder einmal, so sieht es aus, setzen sich in Russland und westlich von Russland diejenigen durch, die dem Mythos anhängen, Russland und die Russen seien „anders“ als Portugiesen, Griechen oder Esten.. Darin wendet sich Memorial in erster Linie gegen diese neue Trennlinie, neue Grenzziehung in Europa. An ihr bauen viele, manche aus guten, andere aus schlechteren Gründen. Der neue Grenzverlauf begann sich zum Zeitpunkt des Aufrufs gerade abzuzeichnen: Noch ist nicht klar, wer alles rein kommt in die EU, aber dass Russland draußen bleibt, ist sicher. Wieder einmal, so sieht es aus, setzen sich in Russland und westlich von Russland diejenigen durch, die dem Mythos anhängen, Russland und die Russen seien „anders“ als Portugiesen, Griechen oder Esten.

Damit einher geht eine Art „Russifizierung“ der sowjetischen Geschichte. Die meisten der Länder, die unter sowjetischer Herrschaft gelebt haben, entziehen sich, so sieht es jedenfalls aus russischer Sicht oft aus, durch ihren Westdrang der gemeinsamen Verantwortung für die sowjetische Geschichte, indem diese „russifiziert“ wird. So ist es ihnen möglich, sich vorwiegend als Opfer russischer Unterdrückung darzustellen. Das giltumso mehr für die aus ehemaligen Sowjetrepubliken hervorgegangenen Staaten. Damit einher geht eine Art „Russifizierung“ der sowjetischen Geschichte. Die meisten der Länder, die unter sowjetischer Herrschaft gelebt haben, entziehen sich, so sieht es jedenfalls aus russischer Sicht oft aus, durch ihren Westdrang der gemeinsamen Verantwortung für die sowjetische Geschichte, indem diese „russifiziert“ wird. So ist es ihnen möglich, sich vorwiegend als Opfer russischer Unterdrückung darzustellen. Das gilt umso mehr für die aus ehemaligen Sowjetrepubliken hervorgegangenen Staaten.

Natürlich ist Russland, also die gegenwärtige politische Elite unter Zustimmung einer großen Mehrheit der Bevölkerung zumindest mit-, wenn nicht gar hauptverantwortlich für diese Entwicklung. Russland befindet sich weiter in einer schwierigen Transformationsphase. Noch ist nicht entscheiden, wohin die Reise geht. Eine endgültige Entscheidung für die künftige Orientierung des Landes ist noch lange nicht gefallen. Die Elite schwankt zwischen Anlehnung und Ablehnung. Sie kann sich nicht entscheiden, dem Westen Freund oder Feind zu sein. Umso größer ist die Verantwortung des Westens und vor allem der EU, möglichst viel dafür zu tun, dass diese Entscheidung zugunsten einer Westorientierung ausfallen wird. Auch wenn es keinen neuen Eisernen Vorhang geben wird: Auch einen großen Graben zwischen Russland und dem Rest von Europa können wir uns nicht leisten.

 

 

 


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