Proteste am Scheideweg – was tun mit dem überflüssigen Putin an der Macht?

Auch wenn die Proteste in Russland mit mehr oder weniger großer Intensität in den kommenden Wochen fortgesetzt werden (woran ich nicht zweifle), ist eine wichtige Etappe abgeschlossen: die des reinen Dagegenseins. Das zeigte sich schön an den Problemen, eine angmessene und für möglichst viele TeilnehmerInnen akzeptable Hauptlosung für die bisher letzte große Demonstration am 10. März auf dem Moskauer „Neuen Arbat“ zu finden. „Russland ohne Putin“ ging nicht mehr. Das vom Organisationskomitee vorgeschlagene „Putin ist nicht unser Präsident“ wirkte wenig. Es war keine Forderung und auch deswegen ein Symptom der allgemeinen Ratlosigkeit.

Bisher war die Heterogenität des Protest eine seiner stärksten Seiten. „Alleine machen sie dich ein!“ ist nicht nur eine Erfahrung deutscher DemonstrantInnen. Doch um vom Protest zu einer politischen Kraft zu werden, muss die neuerstarkte Opposition positive Forderungen formulieren. Niemand hat gegenwärtig auf darauf eine Antwort, am wenigsten vielleicht die an vorderer Stelle Handelnden. Der angekündigte „Marsch der Millionen“ zu Putins Amtseinführung am 7. Mai ist es jedenfalls nicht. Es gibt, um Lenin zu paraphrasieren, keine revolutionäre Situation, denn unten wollen noch nicht genug und oben können sie wohl noch ein bisschen.

Doch die Diskussion ist im Gange, in Zeitungen, im Internet, in den zahlreichen Diskussionsforen, die in jüngster Zeit wie Kraut aus dem Boden schießen. Abwechselnd mit eigenen Texte werde ich in nächster Zeit einige mir interessant scheinende Texte als Übersetzung oder, wenn sie zu lang sind, in meinen Worten, wohl aber als Produkt eines anderen Kopfes gekennzeichnet, wieder zu geben.

Den Anfang macht ein kurzer Text von Maxim Trudoljubow, Redakteur der Meinungsseiten der Moskauer Tageszeitung Wedomosti.

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Überflüssige Leute an der Macht

Von Maxim Trudoljubow

Das offizielle Russland, einschließlich aller Organe, Institutionen, Wachen, Abteilungen, Komitees und Ministerien, ist ein Produkt des Zerfalls des sowjetischen Staatssystems. Der einzige Prozess, der im russischen Staat in vollem Gange ist (nicht in der Gesellschaft, nicht im Land, sondern in den staatlichen Strukturen) ist der Zerfall. Das Verfaulen des Systems begann vor dem formalen Ende der Sowjetunion und setzt sich unter unseren Augen fort. Es gibt immer noch etwas, das zerfallen kann. Wir bekommen jeden Tag eine neue Portion Zerfallsprodukte: ein neues Verbrechen von Menschen in Uniform, ein neues Urteil eines gekauften Gerichts.

Neu an dem allen ist nur die Intensität des Fäulungsprozesses. Die faulende Materie ist immer noch die alte.

Die sowjetische Miliz ist keine Polizei im wirklichen Sinn geworden und zerfällt vor unseren Augen weiter: siehe die jüngste Geschichte in Kasan, die wörtlich tierischen Inhalt hat [Dort wurde Anfang März ein festgenommener brutal zu Tode gefoltert, JS]; siehe die Geschichte des Mordes an Nikita Leontijew in Petersburg [Ein Fünfzehnjähriger, der Anfang des Jahres auf einer Polizeiwache in St. Petersburg totgeprügelt wurde, JS] vor kurzem. Sie hat sich nur aus einem Strafinstrument in ein Marktinstrument verwandelt, das Aufträge annimmt. Russische Gerichte waren niemals Gerichte in der wahrhaftigen Bedeutung dieses Wortes und haben sich aus unechten Gerichten in Stempelpunkte verwandelt, die in einem Schwarzmarkt arbeiten. Die Geheimdienste, die von Anfang an den Sinn einer politischen Polizei hatten, sind das auch geblieben, haben daneben aber auch Quasimarktfunktionen angenommen. Und ihre Chefs sind echte Millionäre geworden – wie es irgendwann zu Sowjetzeiten einmal diejenigen waren, die sie verfolgt haben. Das Kommandosystem hat sich in ein käufliches System verwandelt. Weil man nur für Geld das machen kann, was man früher aus Angst gemacht hat.

Die Generation, genauer die soziale Gruppe, die sich an der Macht befindet, also die gesamte „Kategorie A“ [so werden alle hohen und höchsten Staatsbeamten bezeichnet, bis hin zu Gouverneuren und Regierung, JS], einschließlich Premierminister Putin, sind das Produkt dieses Zerfalls der sowjetischen Gesellschaft. Diese Leute wurden Staatsdiener als der Staat seinen Sinn und seine Autorität zu verlieren begann. Sie haben es auch selbst gesehen: der jämmerliche Sowok [verächtlich für: Sowjetmensch, JS], die nutzlose Ideologie, Armut, aber hier war das wirkliche Leben, in dem “Brutto-für-Netto” herrscht. Sie haben nirgends hingehört –nicht zur Intelligenzija, nicht zu den sowjetischen Spekulanten. Sie sind die Überflüssigen der 1970er und 1980er Jahre. Heute haben sich ihre Träume in Form von Palästen und Jachten am Schwarzen Meer erfüllt. Sie sind nicht das ganze Land, nur sein kleinerer Teil, sein Symptom.

Die Rückseite ihres heutigen Erfolgs ist der Zerfall des Staates als Mechanismus zur Sicherung des Allgemeinwohls. Jeder von ihnen außer Landes gebrachte Rubel, jede Tonne Öl, jede fabrizierte Strafverfolgung und jedes gesetzlose Urteil sind eine Bestätigung des Zynismus als herrschende Ideologie. Aber sie sind gleichzeitig auch ein Schlag gegen das System, den es sich selbst zufügt.

Eine Perestrojka [russisch für: Umbau, JS] mag in der Theorie möglich sein. Innerhalb des Staates gibt es eine neue Generation von Leuten mit Ideen, man könnte sagen, Beamte der “Kategorie B”, die das Land modernisieren wollte. Aber die “Kategorie A” wählt stabil einen anderen Weg. Niemand zweifelt daran, dass die Gesellschaft einen modernen, ehrlichen, auf Dienstleistungen ausgerichteten Staat als Ersatz für den feudal-sowjetischen braucht. Der Inhalt der neuen politischen Periode in Russland liegt darin, zu verstehen, ob die “neue Republik” auf den Grundmauern des alten Staates aufgebaut wird oder von Grund auf neu.

Übersetzung: Jens Siegert