In eine Art Wiegeschritt, einen vor, dann schnell zwei zurück, wirkt der Artikel, den Wladimir Putin am 31. August in der Gazeta Wyborcza unter der Überschrift Blätter der Geschichte – Anlass für gegenseitige Vorhaltungen oder Fundament zur Verständigung und zur Partnerschaft? (auf russisch) zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen und damit des Beginns der Zweiten Weltkriegs vor siebzig Jahren hat veröffentlichen lassen. Der Artikel ist der Form, dem Stil nach ein „Gesprächsangebot“ (Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Vieterljahreszeitschrift „Russland in der globalen Politik“ auf Grani.Ru). Er ist aber auch ein Versuch, kompromissbereit zu scheinen, ohne wesentliche eigene Positionen aufzugeben. Putin versucht auf den ersten Blick Unvereinbares zu vereinbaren. Heraus gekommen ist ein Text in teilweise sehr unputinsch-unmachohaftem, manchmal geradezu weichem Stil.
Dazu passt, dass Putins Redenschreiber in den ersten Absätzen mehrfach ganze Sätze und Ausdrücke nutzen, die wie eine Collage aus Texten von Memorial (vor allem aus dem Nationale Geschichtsbilder – das 20. Jahrhundert und der „Krieg der Erinnerungen“ überschriebenen vorjährigen Aufruf zur Bildung eines europäischen Geschichtsforums) klingen. Hier nur zwei kleine Proben: „Das 20. Jahrhundert hinterließ tiefe, nicht heilende Wunden“ und „das alles ist unsere gemeinsame Geschichte, untrennbar mit uns verbunden. Und es gibt keinen solchen Richter, der der Vergangenheit ein völlig unbefangenes Urteil sprechen könnte“.
Doch zunächst zu dem, was neu ist, also (immer vorsichtig!) als Schritt nach vorn interpretiert werden kann. Das sind vor allem seine Aussagen zum Hitler-Stalin-Pakt und zu Katyn. Putin nennt den Hitler-Stalin-Pakt, dabei so deutlich wie bisher noch nie, „amoralisch“ und „wert verurteilt zu werden“. Die Ermordung von mehr als 20.000 gefangenen polnischen Offizieren bei Katyn durch den NKWD nennt er klar ein „Verbrechen“. Bemerkenswert ist auch, dass der in Russland unvermeidliche gleichzeitige Verweis auf den Tod tausender sowjetischer Soldaten in polnischer Gefangenschaft nach dem polnisch-sowjetischen Krieg 1920, den Putin als „tragisches Schicksal“ bezeichnet, viel weicher ausfällt. Das sind, neben langatmigen Ausführungen zu unterscheidlichen Geschichtsinterpretationen und Geschichte als poliisches Instrument, denen man ohne Schwierigkeiten zustimmen kann, die Reverenzen, die zaghaften Schritte nach vorn. Nun zu den Rückschritten.
Zuerst zum Hitler-Stalin-Pakt. Die Verurteilung geht mit dem Versuch einer historischen Rechtfertigung einher. Von Versailles (das mit der Erniedrigung Deutschlands schon eine „Zeitbombe“ gelegt habe) über den Anschluss Österreichs an Deutsche Reich und vor allem den Vertrag von München mit der anschließenden Besetzung und Zerschlagung der Tschechoslowakei reicht der Bogen, der mit dem bekannten Argument endet, allein dem agressiven nationalsozialistischen Deutschland gegenüber habe die Sowjetunion gar keine andere Möglichkeit gehabt als sich durch ein Abkommen Zeit und Luft zu verschaffen. Nichts anderes hätten England und Frankreich in München auch getan. Doch der Vergleich hinkt. Wie der Historiker Nikita Petrow von Memorial in Grani.Ru feststellt, unterschlägt Putin gleich einem Illusionär auf der Zauberbühne das geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts: „Zweifellos hat Deutschland den Krieg angefangen, aber Stalin hat dabei geholfen. Stalin hat den Vertrag geschlossen und sich in diesen Krieg eingeklinkt. Putin umgeht bewusst ein datum, den 17. September 1939, als sowjetische Einheiten die sowjetisch-polnische Grenze verletzten und einen großen Teil Polens einnahmen. Hier schweigt Putin. Er hat keine Argumente. Er hat schlicht nicht vor, darüber zu reden.“
Auch die Aussagen zu Katyn haben einen Vorbehalt. Bis heute hält Russland einen großen Teil der Akten zu diesen staatlich angeordneten und durchgeführten Massenmorden verschlossen. Die russische Militärstaatsanwalt hat das Verfahren gegen die Täter mit der scheinheiligen Begründung eingestellt, sie seien vermutlich nicht mehr am Leben. 18 Gerichtsverfahren hat Memorial bisher im Ringen um die Herausgabe der Akten verloren. In Polen bot Putin heute einen faulen Kompromiss an. Die Katynakten würden selbstverständlich Polen sofort übergeben, wenn dass Land seinerseits seine Archive für russische Forscher öffne. Doch wozu? Was sollte da untersucht werden. Dazu schweigt Putin. Zur Vorsicht mahnt auch der Schluss Putins, Katyn sei ein „Grund für gegenseitige Verständigung“. Woher kommt dieser Grund? Und warum sollte Katyn für Polen ein Verständigungsgrund sein, wenn es bisher keine juristische Rehablitierung der Opfer staatlicher Gewalt gibt und die Akten verschlossen sind?
Die Argumentation des Artikels erinnert mich stark an den Auslöser des deutschen Historikerstreits Mitte der 1980er Jahre. Damals versuchten konservative deutsche Historiker um den Berliner Ernst Nolte die deutsche Schuld durch einen Vergleich mit den Taten (oder auch nur Vorhaben) der Stalinschen Sowjetunion zu relativieren. Ähnlich argumentiert heute der von Putin angeführte Mainstream in Russland. Alle hätten doch mit Hitler verhandelt und oft sogar Verträge abgeschlossen, auch die Sowjetunion. Der Hitler-Stalin-Pakt war nicht gut, aber eben auch nicht schlechter als zum Beispiel das Münchner Abkommen. Daraus zieht Putin dann den Schluss, alle müssten mehr oder weniger gleichviel Abbitte tun, dann könne man einen Schlussstrich ziehen und die Geschichte dürfe „nicht mehr die Zukunft bestimmen“. Sprechlich zieht Putin den Strich bereits. Bei den Verbrechen ist von der Sowjetunion und von „sowjetischen“ Verbrechen die Rede. Die in polnischer Gefangenschaft 1920 uzmgekommenen Soldaten aber sind bei Putin „russländisch“, ebenso wie die Armee, die Hitler besiegt und Berlin eingenommen hat. Käme Putin damit durchm könnte sich Russland um eine ernsthafte Beschäftigung mit den finstersten Kapiteln der eigenen Geschichte drücken. Das wären keine guten Aussichten für das Land und Europa.