„Wandel durch Annäherung“ und der Status Quo – – oder: Wie soll man mit Putin umgehen?

In Deutschland wird mal wieder heftig über die Russlandpolitik gestritten. Wie soll mit dem großen Land am östlichen Rande Europas umgegangen werden? Was entspricht deutschen, EU-europäischen Interessen? Was kann Russland zugemutet werden? Was darf ihm zugemutet werden? Was hilft? Und was eher nicht?

Dieser Text ist ein kurzes und kleines Plädoyer für Heinrich Bölls Diktum, „Einmischung ist die einzige Möglichkeit Realist zu bleiben“ (im Übrigen das Motto der Heinrich Böll Stiftung). Heinrich Böll hat das auch in Bezug auf Russland praktiziert, und es bleibt aktuell. Ich bitte es mir nachzusehen, dass ich angesichts der Kürze hier nicht jede These angemessen belegen  kann.

Fangen wir mit der Idee eines „Wandels durch Annäherung“ an. Von vielen, die Russland gegenüber leisere Töne anmahnen, wird die Brandt-Bahrsche Ostpolitik samt ihrer Formel vom „Wandel durch Annäherung“ als erfolgreiches Beispiel diplomatischen Umgangs mit Russland angeführt. Dem Konzept liegt der Gedanke zugrunde, erst einmal das Gegenüber, also damals, in den 1960er Jahren, die Sowjetunion, als legitimen Gesprächspartner anzuerkennen, um überhaupt einen Zugang zu erhalten. Dahinter standen auch die Erfahrungen eigener Hilflosigkeit, als 1953 in Berlin und 1956 in Ungarn sowjetische Panzer rollten. Es musste etwas anderes geben, als die Alternativen Zuschauen oder Zuschlagen.

Durch die Anerkennung sollten auf sowjetischer Seite Ängste abgebaut werden, es ginge letztlich um, wie man heute sagen würde „Regime Change“ (aber genau darum ging es damals). Dann, nach einer gewissen Lockerung auf sowjetischer Seite, so die Überlegung, würde die westliche Freiheit schon in die östlichen Gesellschaften einsickern und sie von innen zu verändern beginnen. Ähnliches hatte auch schon Kennedy in seiner berühmten Ich-bin-ein-Berliner-Rede 1963 formuliert („…wir hatten es nie nötig, eine Mauer aufzubauen, um unsere Leute bei uns zu halten…“). Diese Strategie erwies sich in der Folge als überaus wirkungsmächtig.

Aber nicht sie war es, die die Mauer zum Einsturz gebracht und das Ende der Sowjetunion besiegelt hat. Das Meiste machten die Menschen in Osteuropa selbst, in der Tschechoslowakei 1968, in Polen 1980 und später in der Sowjetunion selbst, während der Perestroika. Aber der Westen half. Er half zweierlei. Durch ein sehr attraktives Werte- und ein vielleicht noch attraktiveres Warenangebot einerseits. Aber auch durch die ernst zu nehmende und еrnst genommene Drohung, für diese Werte im Notfall einzustehen. Letztlich ist die Sowjetunion dann an drei Dingen eingegangen: Am eigenen Unvermögen, am Dialog und an der westlichen „Machtpolitik“ (Reagan).

In der heutigen Diskussion um so etwas wie eine „neue Ostpolitik“ bleibt von diesen drei Bestandteilen aber meist nur das zweite übrig, der Dialog. Zudem wird dieser Dialog oft auf den Dialog mit den gerade Herrschenden, also gegenwärtig und auf absehbare Zeit den Dialog mit Putin reduziert. Damit verkümmert das ursprüngliche Konzept des „Wandels durch Annäherung“ auf „Annäherung“. Der Wandel findet nicht mehr statt. Mehr noch, er fehlt oft in der Vorstellungswelt der Handelnden. Denn diejenigen, die einem voraussetzungslosen Dialog das Wort reden, glauben oft nicht an die Möglichkeit eines Wandels in Russland. Das ist unhistorisch und kleinmütig zugleich.

Der Erfolg der Ostpolitik hatte nämlich eine wichtige Voraussetzung: Den Glauben an die eigenen Werte und an ihre (auch wenn es jetzt ein wenig pathetisch wird, muss ich das so schreiben) moralische wie praktische Überlegenheit. Dieser Glaube wurde durch den „Sieg“ im Kalten Krieg, also die Selbstauflösung der Sowjetunion, noch einmal befeuert (was in der Folge zu einer gewissen Hybris führte) und ging dann verloren.

Das, was wir heute meist den Erfolg der Ostpolitik nennen, war also, erstens, nicht der Erfolg der Ostpolitik allein und wurde, zweitens, nicht von den meist sozialdemokratischen „Erfindern“ der Ostpolitik vollendet (ohne dass ich deren Verdienste hier schmälern wollte). Viele von ihnen haben die gesellschaftliche Wende in Osteuropa ab Ende der 1970er Jahre verschlafen, weshalb es einem konservativen Kanzler vergönnt war, die politische Lorbeeren dafür einzuheimsen. Die Macher der Ostpolitik waren, grob gesprochen, zu sehr mit dem Dialog oben, mit den Machthabern beschäftigt, um sehen zu können, wie sich unten die Gesellschaften selbst befreiten. Dieser Fehler scheint sich auch jetzt zu wiederholen. Der Blick von oben verstellt die Sicht nach unten.

Eine Folge der schon erwähnten Kleinmütigkeit ist eine Orientierung am Status Quo. Das kommt der gegenwärtigen russischen Staatsführung zupass. Russland ist schon seit geraumer Zeit das, was man eine Status-Quo-Macht nennen könnte. Vor allem in der Außenpolitik geht es in erster Linie darum, die bestehende politische Ordnung zu erhalten. Die politische Elite in Russland kann sich gegenwärtig Veränderungen kaum anders als Verschlechterungen vorstellen. Anders ausgedrückt geht es um das Downsizing von Großmacht zu Mittelmacht, von Imperium zu Nationalstaat. Und da niemand weiß, wo das endet, wird nach Kräften versucht zu bremsen. Allein, die Kraft fehlt.

Dieses beharrende außenpolitische Verhalten findet seine Entsprechung im Inneren. Veränderungen in anderen Weltregionen, wie z.B. in den arabischen Ländern oder neuerdings möglicherweise in der Türkei (und nicht mehr nur in der unmittelbaren Nachbarschaft), werden in erster Linie als Bedrohung für den Status Quo im Inneren interpretiert. Das Putinsche Poltern zu allen möglichen Gelegenheiten ist vor allem Ausdruck dieser Schwäche und sollte keinesfalls als Stärke missverstanden werden (auch wenn eben dieses Missverständnis sein Ziel ist).

In Deutschland (in der EU, im Westen) gibt es übrigens einen analogen Diskurs in Bezug auf die eigenen Entwicklungsaussichten. Der wirft unter anderem die Frage auf, ob nicht das „Modell Putin“, das Modell  einer „gelenkten Demokratie“ oder das chinesische Modell von Entwicklung ohne Freiheit auf Dauer den demokratischen Gesellschaften wirtschaftlich überlegen ist. Dies und die Fixierung auf den Staat als Dialogpartner führt zur erwähnten Kleinmütigkeit und zu einer fatalen Neigung, den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur zu relativieren. Wenn man selbst nicht mehr an die Zukunftsfähigkeit des eigenen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells glaubt, fehlt natürlich anderen gegenüber jede Überzeugungskraft dass diese Lebensweise auch für sie gut und attraktiv sein könnte.

Soweit die eher theoretischen Überlegungen. Nun zur Alltagspraxis. Wie also sollen westliche Regierungen auf den polternden Putin reagieren? Erst einmal gilt es zu erkennen, dass dieses Poltern Methode hat. Ständige kleinere und größere Unverschämtheiten gehören innen- wie außenpolitisch zum Handwerkszeug Putins. Da ist normale Macho-Art. Da muss man gegenhalten. Nur Gegendruck kann das kontern. Stillhalten erzeugt nur mehr vom Gleichen. In Putins MachoWelt ist, wer sich nicht wehrt, ziemlich schnell unten durch. Man wird dann, um im russischen Lagerjargon zu reden, ein „opuschtschenyj“, was man mit „Ausgestoßener“ oder „Unberührbarer“ übersetzen könnte. Das ist jemand, dem gegenüber die üblichen menschlichen Umgangsformen nicht mehr gelten, mit dem nicht mehr gerechnet werden muss, jemand ohne Wert und ohne Würde. Kompromissbereitschaft ohne Gegenwehr wird in Russland meist als Schwäche interpretiert.

Nun ist Putin aber, für, im Wortsinn, unabsehbare Zeit, an der Macht und der Bundesregierung (wie jeder anderen Regierung) bleibt nichts anderes übrig, als mit ihm zu sprechen, zu verhandeln, zu handeln. Ich empfehle eine Doppelstrategie, die, wie mir scheint, zumindest Bundeskanzlerin Merkel (ob nun ausdrücklich oder eher intuitiv kann ich nicht beurteilen, ist aber auch nicht so wichtig) in letzter Zeit verfolgt. Sie verbittet sich freundlich, verbindlich, auch mal ironisch aber durchaus standfest, die Putinschen Zumutungen. Sie hat damit, wie die jüngsten Vorkommnisse zeigen, durchaus Erfolg. Zumindest begegnet man ihr mit Respekt.

Dabei sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Die Möglichkeiten, kurzfristig und von außen Einfluss auf die russische Politik zu nehmen, sind gering. Manchmal mag es gelingen, irgendwem ein wenig Schutz zu gewähren oder ein Zugeständnis zu bekommen, aber wohl kaum mehr. Das sollte aber deswegen nicht gering geschätzt werden. Das ist oft menschlich richtig und als Signal und für die Zukunft wichtig. Mittel- und langfristig sollten gleichzeitig weiter die Menschen und Kräfte in Russland unterstützt, eingebunden und ermutigt werden, die sich für eine demokratische, offene, liberale Veränderung des Landes einsetzen. Das ist vor allem eine Politik der kleinen Schritte. Ihre Richtung ist bekannt und, über die oben beschriebenen Differenzen hinaus, unter PolitikerInnen, ExpertInnen und AktivistInnen, die sich mit Russland beschäftigen, auch kaum umstritten.